Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

C.H.Beck, 2014, ISBN 978-3-406-66751-0, 528 Seiten, auch als eBook erhältlich.

Kriegsende vor siebzig Jahren, da war es auch an mir, eine zum Ereignis passende Neuerscheinung zu lesen. Fast neu, denn „Alles Licht, das wir nicht sehe“ erschien bereits 2014 als deutsche Übersetzung. Inzwischen gibt es viele positive Besprechungen hierzulande und Anthony Doerr hat für den Roman den Pulitzerpreis 2015 in der Sparte Belletristik erhalten.

Es geht in diesem über fünfhundert Seiten starken Werk in der Hauptsache um zwei Personen: Marie-Laure ist ein junges, selbstsicheres, früh erblindetes Mädchen, das während des 2. Weltkriegs aus dem besetzten Paris zu ihrem Onkel nach Saint-Malo fliehen muß. Von ihrem Vater, einem begnadeten Handwerker und Mitarbeiter des „Muséum National d’Histoire Naturelle“, hat sie ein Holzmodell Saint-Malos geschenkt bekommen, damit sie sich ihre Umgebung ertasten kann. In diesem Modell, respektive in einem Haus des Modells, ist ein blauer, mit mystischer Bedeutung aufgeladener Diamant versteckt. 1944 beginnt in Saint-Malo die Befreiung durch die Alliierten. Wegen ihres Handicaps verpaßt es Marie-Laure, aus der umkämpften Stadt zu fliehen. In dieser Situation trifft sie auf Werner Hausner.

Werner Hausner ist zum Anfang des Romans ein schmächtiger, kleiner Waisenjunge aus dem Ruhrpott. Sein enormes technisches Talent manövriert ihn in eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“, kurz Napoli. Im Krieg wird es seine Aufgabe sein, mit ausgeklügelter Peiltechnik „illegale“ Sender der Résistance aufzuspüren. Dies führt ihn schließlich nach Saint-Malo, und als beide Protagonisten 1944 aufeinandertreffen, ist er achtzehn, sie sechzehn Jahre alt.

Es gibt noch viele weitere Romanfiguren, die einem im Gedächtnis bleiben: so zum Beispiel Frederick, dem Freund Werners in der Napolischule. Ihm blüht dort ein grauenhaftes Schicksal. Oder dem deutschen Stabsfeldwebel von Rumpel, der einen ganz persönlichen Grund hat, nach dem geheimnisvollen Diamanten zu jagen. So viele Personen es in diesem Roman gibt, so viele Themen werden behandelt: Es geht um die Funk- und Radiotechnik, dem Wesen von Muscheln und Schnecken, um die unerschrockenen Aktivitäten der Résistance und um Kollaboration; Jules Verne ist ein großes Thema, aber auch die Grausamkeiten der nationalsozialistischen Erziehungsideale. Anthony Doerr erzählt, aber urteilt nicht, er berichtet nicht über den Krieg, sondern zeigt den Menschen im Krieg: Verblendung, Verzweiflung, Mut, Abgründe des Gewissens. Er bleibt dabei immer unterhaltend, typisch angloamerikanisch möchte man sagen. Seine Sprache ist reich, der Roman gut recherchiert.

Die Geschichte wird in vielen, oft sehr kleinen Kapiteln erzählt. Das Scheinwerferlicht wechselt sozusagen in rascher Folge von einem Protagonisten zum anderen, von einem Schauplatz zum nächsten. Auch gibt es immer wieder Zeitsprünge, so bedarf es stellenweise erhöhte Konzentration bei der Lektüre. Hier setzt mein einziger Kritikpunkt an: Die kurzen Abschnitte sorgen zwar anfangs für eine gewisse Dynamik, aber auf Dauer wirkt das in stilistischer Hinsicht ein wenig ermüdend. Der Roman hat ja immerhin über fünfhundert Seiten. Empfehlen aber würde ich „Alles Licht, das wir nicht sehen“ von Anthony Doerr als einen spannenden, sprachmächtigen und stellenweise ergreifenden Roman.

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