Ursula Krechel: Landgericht

LANDGERICHT
Jung und Jung, 496 Seiten, ISBN 978-3-99027-024-0

Warum lese ich diesen Roman? Aufmerksam geworden wurde ich wieder einmal durch den Bücherdiwan auf Bayern 2, sowie den vielen Berichten in den Medien, denn Frau Krechel hat dieses Jahr für Landgericht den Deutschen Buchpreis erhalten. Und ich interessiere mich für Geschichte, vor allem Familiengeschichte. Was in den Köpfen der Menschen der jungen Bundesrepublik vor sich ging, ist für mich ein höchst interessantes Thema.

In dem knapp fünfhundertseitigen Roman von Ursula Krechel wird die Geschichte von dem aus Breslau stammenden und in Berlin lebenden Richard Kronitzer erzählt. 1947 kehrt der deutsche Jude Kronitzer aus seinem Exil in Kuba zurück und versucht seine Familie erneut zusammen zu führen, seine Karriere als Richter fortzusetzen und seine verletzte Ehre wieder herzustellen. Seine arische Frau Claire blieb während der Nazizeit unter schwierigen Umständen in Deutschland, ihre beiden Kinder Georg und Selma wurden nach England gebracht. In Mainz schließlich gelingen ihm nach vielen Schwierigkeiten die ersten beruflichen Schritte in der neu entstehenden Bundesrepublik. Das Buchcover zeigt den Ort seiner Wirkungsstätte, den Sitzungssaal des Landgerichts in Mainz. Das Foto strahlt Kälte aus. Kälte, die auch dem Rückkehrer entgegengebracht wird. Es wäre doch so einfach gewesen, ihm die Arme entgegenzustrecken. Aber er ist eine „displaced person“. Er ist nicht willkommen und muß für jede Selbstverständlichkeit kämpfen. Was hier geschieht ist schamlos. In jeder Zeile des Buches ist es zu spüren: Kälte, Ignoranz und Kaltschnäuzigkeit der deutschen Nachkriegskarrieristen. Kronitzer sieht wie um ihn herum Karrieren nahtlos fortgesetzt werden, nur seine eigene, die des Opfers des Naziregimes, wird mit den abstrusesten Begründungen behindert wo es nur geht . Entschädigungen werden ehemaligen Nazis wie selbstverständlich zugesprochen, dem aus dem Exil zurück gekehrten und ehemals verfolgten Kronitzer nicht.

Der Landgerichtsdirektor Kronitzer hat tatsächlich gelebt. Ursula Krechel hat diesen Fall aufs Genaueste recherchiert, den Namen des Protagonisten aber geändert. Es ist die ganz große Stärke des Romans, daß er ohne Dramatisierung der Figur und der Zeitumstände auskommt. Als zum Beispiel der Versuch der Eltern, die Kinder nach vielen Jahren in England zurück in die Familie zu integrieren, scheitert, heißt es lapidar: „Es war nicht einfach, die Tochter ein zweites Mal zu verlieren. Sie reiste allein, das trauten ihre Eltern der Fünfzehnjährigen zu. Es war kein Triumph, es war ein Desaster.“ So etwas hat Wirkung. Es gibt allerdings auch Passagen, das soll nicht verschwiegen werden, die dem dokumentarischen Charakter der Erzählung Tribut zollen und der Lebendigkeit der Figuren zum Nachteil gereichen. Mir erschien grad das lange Kapitel über Kronitzers Zeit in Kuba etwas künstlich und fremd im Text, denn hier mußte offensichtlich freier erzählt werden. Auch wird viel Amtsdeutsch in dem Roman geschrieben, man muß hier nicht jede Zeile lesen. Nichtsdestotrotz: Die Leistung von Ursula Krechel ist nicht hoch genug einzuschätzen. Hier wird Zeitgeschichte lebendig und nachfühlbar. Kein Roman, den man so schnell vergißt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert