George Eliot: Middlemarch

Rowohlt 2019, 1264 S., ISBN: 978-3-498-04537-1, übersetzt von Melanie Walz.

Da lese ich also ein 1200-seitiges Buch, Zeile für Zeile, nur um am Ende das Gefühl zu haben, es sofort noch einmal von vorne lesen zu müssen, um noch mehr in diesem Roman zu entdecken. Ach, wäre ich nur eine gewissenhafte Leserin mit genügend Zeit und Muße. So bleibt es vorerst bei dieser ersten Lektüre, voller Staunen, Bewunderung und Freude an diesem Roman. George Eliot hieß eigentlich Mary Ann Evans, wurde 1819 in der Nähe von Coventry geboren und verstarb 1880 in London. Ihr bemerkenswertestes Werk »Middlemarch« erschien zuerst in Fortsetzung 1870 bis 1871. Es war ihr vorletzter Roman und es gab noch mehrere durchgesehene Ausgaben zu ihren Lebzeiten. In Deutschland hatte das Buch bisher nicht den Erfolg wie z. B. die Bücher von Jane Austen oder Charles Dickens. Ein Grund hierfür war wohl die Schwierigkeit, die spezielle Eliotsche Ironie angemessen ins Deutsche zu übertragen. Zum Glück nahm sich Melanie Walz dieser Herausforderung an und seit letztem Jahr haben wir ein »Middelmarch« vorliegen, dass es den der englischen Sprache nicht (ausreichend) Kundigen den ungetrübten Genuss dieses wunderbaren Buches ermöglicht. 

Wo und wann sind wir in dem Roman? Wir sind in der mittelenglischen Provinzstadt Middlemarch (Coventry mag hier Pate gestanden haben), dem naheliegenden Ort Lowick, den Gütern Tipton und Freshitt, Zeit um 1830. Das Personal ist üppig, etwas zwei Dutzend Personen, die mit ihren Verwandtschaftsverhältnissen dankenswerterweise auf dem hinteren Vorsatz gedruckt sind. Von Stand sind diese Personen Arzt, reiche Bauern, Landadel, Mittelstand, während die Unterschicht nicht vorkommt. Sie alle wollen nach oben, streben nach Höherem und scheitern letztlich an sich selbst oder am kleinstädtischen Dünkel. Wobei wir bei der Besonderheit von »Middlemarch« sind: wer etwas über Besitz und Erwerb von Geld im 19. Jahrhundert wissen will, greift bekanntlich zu Jane Austen oder liest Balzac oder auch George Eliots »Middlemarch«. Hier allerdings bekommen Leser und Leserinnen noch einiges mehr geboten: Es werden Themen der Politik, Ökonomie, der Literatur, Religion, der Medizin und der gesellschaftlichen Verhältnisse im Allgemeinen und der Geschlechterverhältnisse im Speziellen angesprochen. George Eliot war äußerst belesen und auf dem Stand des damaligen Wissens. Schon zeitgenössische Kritiker befürchteten, dass diese Vielfalt an Themen selbst für gebildeten Lesern zu viel sein könne. Tatsächlich ist die Lektüre auch heute noch eine gewisse Herausforderung und kein Buch für Liebhaber von Pageturner. Will man allerdings alles in den Anmerkungen oder auswärtig nachschlagen, kann man sich leicht verheddern. Das richtige Maß ist hier zu finden. Und es gibt einen durchaus spannenden Plot. Hier und da dachte ich: Siehste, das haben die von Downton Abbey also von der George Eliot geklaut. Man kann »Middlemarch« als ein Familiendrama lesen, als einen historischen Roman über die Anfänge der Industrialisierung in England, als psychologisch fein durchwebte Geschichte über Ehen im 19. Jahrhundert und noch vieles mehr. Dieses Buch ist so vielschichtig, dass es einen schier umhauen mag.

Doch was wäre ein Roman ohne das Personal. Die beiden Hauptakteure will ich kurz vorstellen: Dorothea Brooke ist auf eine sehr eigenwillige Art fromm, sozial eingestellt und ungeheuer wissbegierig. Die junge und schöne Landadlige heiratet, alle Warnungen der Familie in den Wind schlagend, den wesentlich älteren Gelehrten Edward Causabon. Ihr Plan, mit ihm auch intellektuell wachsen zu können, entpuppt sich als kompletter Reinfall. Causabon erweist sich als seelenloser Kleingeist, der an seinem Lebenswerk »Der Ursprung aller Mythologie« komplett scheitert. Viel zu früh gealtert stirbt er und hinterlässt seiner jungen Frau ein zweifelhaftes Erbe. – Die andere herausragende Gestalt ist Tertius Lydgate. Der gut ausgebildete Arzt hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die Standards der ärztlichen Versorgung zum Nutzen der Bewohner von Middlemarch auf den Stand der Wissenschaft zu heben. Eher zufällig heiratet er Rosemond, die wunderschöne Tochter des Bürgermeisters. Sie versessen auf sozialen Aufstieg, er klug, karrierebewusst, aber unfähig über sich und mit seiner Frau zu sprechen. Diese Szenen einer unglückseligen Ehe sind grandios beobachtet.

Eigentlich ist es eine Sünde, es bei diesen zwei Personen zu belassen, denn es gibt so viele skurrile und bemerkenswerte Akteure in diesem Buch. Aber ich bin eben ein sündiger Mensch und habe noch über die Organisation des Romans zu sprechen: Dieser ist in acht Bücher aufgeteilt, die gewissermaßen als Stränge mit jeweils wechselndem Personal miteinander in Verbindung stehen. Das die Auflösung im letzten Kapitel dann ein wenig an Happy End erinnert, stört mich wenig. Wenn man genau liest und überlegt: Ist das denn überhaupt ein Happy End? Die Ausgabe von George Eliots »Middlemarch« bei Rowohlt enthält auf 1200 Seiten den Roman, ein unbedingt lesenswertes Nachwort der Übersetzerin auf 24 Seiten und knapp 40 Seiten Anmerkungen. In das ganz leicht gegilbte, dünne Papier und den geschmackvollen Schriftsatz habe ich mich verguckt und möchte, dass fortan alle Bücher so herausgegeben werden. Und ich möchte, dass alle dieses formidable Werk von George Eliot lesen.

4 Kommentare on "George Eliot: Middlemarch"


  1. Hm. Winter is coming. Da könnte ein dickes Buch mit so vielen Vorzügen doch eine gute Investition sein… Danke, für Deinen Tipp!!!

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  2. Super, liebe Lena!
    Jetzt brauche ich ja gar mehr nicht nach faszinierendem Lesestoff für die regnerischen Herbsttage zu suchen…
    danke für den Tipp!

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