Ursula März: Tante Martl

Piper Verlag 2019, 192 S., EAN 978-3-492-05981-7

Manchmal ist das so: Ich beende ein größeres Leseprojekt und freue mich auf eine leichte Lektüre danach. Oft steht dieses Buch schon Wochen vorher fest. Literarisches Auslaufen sozusagen. Es kann allerdings passieren, dass dieses Buch mich wider Erwarten so fasziniert, dass es hier nicht unerwähnt bleiben darf. So ein Buch ist Tante Martl von Ursula März. Die Autorin ist mir lange bekannt, da ich regelmäßige Hörerin von Diwan – Das Büchermagazin auf Bayern 2 bin und Frau März dort des Öfteren als Buchkritikerin auftritt. Auch ihr dieses Jahr erschienener Roman Tante Martl wurde dort besprochen und ich merkte mir vor, dass dieses Buch etwas für mich sein könnte. Der Roman ist biographisch angelegt und handelt von Ursula März Tante, die als dritte Tochter ihrer Eltern, die sich unbedingt einen Stammhalter männlichen Geschlechts gewünscht hätten, im Juni 1925 geboren wurde. Ihre zugedachte Rolle war nicht die eines Nesthäkchens, sondern die der ungeliebten Tochter (weil kein Junge), die ihre Schuld abzutragen hatte: Sie hatte die Eltern bis zu deren Tod zu pflegen, lebte ein Leben lang in deren Haus in einer westpfälzischen Kleinstadt und heiratete nie. Ein entbehrungsreiches, armes Leben? So ganz nicht.

Die andere Martl hatte als einzige der Töchter einen Führerschein, stand mitten im Leben (im Gegensatz zu ihren verheirateten Schwestern), hinterließ als Lehrerin deutliche Spuren, reiste leidenschaftlich gern und stellte nach dem Tod der Eltern noch einiges an, um ihre lebenslange Unsichtbarkeit zu reparieren (der Löffel auf dem Titelblatt). Die Autorin erzählt diese nicht leicht zu lebende Existenz einer Frau in den Wirtschaftswunderjahren aus der Perspektive der Lieblingsnichte Ursi. Keine andere Person kam Tante Martl (eigentlich Martina) so nahe. Ursi ist unschwer zu erkennen Ursula März selbst. Aufgeteilt ist das Buch in Absätzen, manchmal nur eine halbe Seite lang, die durch eine Leerzeile voneinander getrennt sind. Kapitelähnliche Abschnitte sind durch fett gedruckte Anfänge eines neuen Kapitels gekennzeichnet. Und so fliegt man sozusagen durch das Leben der Tante, ziemlich atemlos, Anekdote reiht sich an Anekdote und wenn die Tante in direkter Rede spricht, tut sie das im Dialekt. Manche Episode ist sehr berührend, macht nachdenklich und man möchte das Buch eigentlich aus der Hand legen, um sich mit dem Geschehen zu beschäftigen. Das aber ist kaum möglich, weil es zu spannend ist. Frau März arbeitet mit Vor- und Rückblenden, beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Familienkonstellationen, gibt auch vorsichtig eigene Einschätzungen ab. Sie beschreibt die Familie und deren Umgebung genau, ohne zu denunzieren. Dort wo ein harsches Urteil zu fällen wäre, so hatte ich beim Lesen das Gefühl, schweigt sie sich aus. Das Erzählte wird so mit dem Romankonstrukt zu einem Pagetuner im besten Sinn.

Auch einen Tag nach der Lektüre gehen mir die Tante Martl, aber auch einige der Nebenfiguren nicht aus dem Kopf. »So ähnlich war das doch auch bei ….!« denke ich hier und da und vergleiche Geschehnisse des Romans mit Selbsterlebten. Ich frage mich nach Bedingungen, Zwängen und Möglichkeiten einer Existenz: Tante Martl als Frau in prekärer Familienaufstellung in biederen Aufbruchzeiten, oder das mit ihr befreundete Geschwisterpaar.  Über unverstelltes Leben: Tante Martl zeigt viele Charakterzüge, die nicht echt sind, sondern der Opposition zur ungeliebten Schwester entspringen: Ja zeigen, dass man nicht so ist wie die. Frau März arbeitet das fein und fast wie nebenbei heraus. Ich frage mich: Ist das denn nur schlecht, kann das nicht vielleicht sogar Antrieb und Stütze sein? Nun gut, ich sagte es bereits: Der Roman Tante Martl von Ursula März wird mich noch ein wenig begleiten. Das Buch empfehle ich gern.

6 Kommentare on "Ursula März: Tante Martl"


  1. Ich hatte auch eine Tante Martl (Martha).
    Sie war die älteste Tochter meiner Oma, ungefähr 1906 geboren, kam aus dem Riesengebirge und konnte fantastische Schlesische Klöße zu bereiten.

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  2. Habe das Buch so gern gelesen! Auf der Seite 150 gab es einen Abschnitt über den Koch auf der Wielandshöhe, Vincent Klink. Diesen Abschnitt habe ich abgeschrieben und ihm geschickt.
    Er hat sich sehr gefreut, sich auch das Buch bestellt -und ich glaube, er hat sich bei der Autorin bedankt, in welcher Form auch immer.
    Mir kamen bei der Lektüre Erinnerungen an meine Hauptschulzeit. Musste an einer solchen drei Jahre unterrichten.
    Außerdem kenne ich Leute aus der Geschehensgegend. Überhaupt waren die Personen ins beste literarische Licht gestellt!
    Danke für die feine Leseanregung!
    Sonja

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