»Stettin, den 1. September 1916. Herrn und Frau N.N.! Die gewaltige Wendung, die die Gnade des allmächtigen Gottes, unsere durch seine Macht und Kraft bewaffneten Truppen uns errungen haben, lassen uns in eine große gesegnete kommende Zeit blicken. Möchte unser Volk so viel Gnade nie vergessen, nie den alten Gott, der Staat und Volk vor allem Übel bewahrt. Ihre Wohnung kostet vom 1. Oktober ab 30 Mark. Achtungsvoll Frau R.«

(Karl Kraus: Die Fackel Nr. 445-453, 68)

Hoffmann und Campe, 240 Seiten, ISBN 978-3-455-40418-0

Eine Konstruktion wie ein Escher-Bild, so oder so ähnlich könnte man dieses Buch nach seiner Besonderheit gefragt beschreiben: Der Held (und Freund des Autors) Benjamin Lee Baumgärtner verliebt sich immer wieder aufs Neue an Orten (London bis Bienenbüttel), an denen grad eine Seuche (von Rinderwahnsinn bis  EHEC) ausbricht. Nebenher sucht er nach seinem indianisch-stämmigen Vater. Im Buch treten aber auch das Buch selbst und der Autor auf. Situationen werden typografisch dargestellt und verdeutlicht (ein Hoch auf die Druckkunst!) und um zu zeigen, wie man nichts versteht, wenn in einem Raum chinesisch gesprochen wird, werden schon einmal ein paar Seiten mit chinesischen Schriftzeichen gedruckt. Das ist intelligente Spielerei, ohne Frage gelungen, aber mit der Zeit auch ermüdend. Ebenso wie das gewollte Verzögern der Handlung,um langen Diskussionen über Sprache Raum zu geben. Eine intellektuelle Spielwiese, auf der sich zu amüsieren Wolf Haas den Leser einlädt. Vom typisch lakonisch-flapsigen Haas-Ton bleibt bedauerlicher Weise zu oft nur die Weitschweifigkeit. Konstruktion frißt Flair, hätte mein Urteil gelautet, wäre da nicht der wirklich amüsante Schluß gewesen. Plötzlich wird wieder erzählt, überraschend und sehr witzig. Ich schließe das Buch lachend, aber auch ein wenig ratlos.

DRACULA (übersetzt von Andreas Nohl)
Steidl Verlag, 540 Seiten, ISBN 978-3869304625

„Nein“, sagte sie und hob abwehrend die Hand, „in diesem Augenblick hält der Tod mich fester umklammert als würde die Erde eines Grabes auf mir lasten!“. So heißt es gegen Ende des Vampirroman-Klassikers von Bram Stoker. Man merkt, daß hier reichlich Pathos und Kitsch geboten wird. Auch in den Handlungssträngen und was das Erzähltempo angeht holpert und stottert es ab und an bedenklich. Dies ist vor allem der Erzähltechnik des Briefromans geschuldet. Formal besteht Dracula aus Briefen und Tagebucheinträgen der Protagonisten, auch ein Phonograph kommt zum Einsatz. Diese Wahl der Form sollte der Handlung Authentizität vermitteln. Eine Rechnung, die heute natürlich nicht mehr aufgeht. Nein, ein Artist der Sprache war Bram Stoker nicht, einer der berühmtesten Autoren der Literaturgeschichte schon.

ALOIS NEBEL
Voland & Quist, 360 Seiten, ISBN 978-3-863910-12-9

Schon Wolfgang Hildesheimer ließ seinen Romanhelden in Tynset Kursbücher lesen und auch Alois Nebel, Fahrdienstleiter an einem kleinen Bahnhof an der tschechoslowakisch-polnischen Grenze, im ehemaligen Sudetenland, sammelt und liest am liebsten Fahrpläne („Ich lese auch gerne auf dem Klo. – Was denn? – Fahrpläne. Da ist immer alles gleich“). Geplagt wird er von Alpträumen, die ihn bei nebliger Witterung heimsuchen: Geister aus den Epochen der jüngeren Geschichte Mitteleuropas (Nazizeit, Vertreibung der Deutschen, sowjetische Besatzung) fahren in Zügen durch Alois Nebels Bahnhof. Schließlich bringen diese düsteren Visionen den Helden in eine Nervenheilanstalt. Er lernt den mysteriösen Stummen kennen und freundet sich mit ihm an. Der Kampf gegen seine Dämonen beginnt, und auch eine wunderbare Liebesgeschichte.