
Und wieder hat der Wallstein Verlag einen „neuen“ Raabe herausgebracht. Das ist sehr erfreulich und diese Renaissance Raabes auf dem Buchmarkt war vor wenigen Jahren durchaus nicht erwartbar. Ich habe u. a. die 26 Bände der Braunschweiger Ausgabe in den Regalen stehen, aber zum einen wurde die kritische kommentierte Ausgabe des Wallstein Verlags im Vergleich zu den Bänden aus den 1960er Jahren nicht nur im Anmerkungsbereich sinnvoll aktualisiert, zum anderen sind diese neuen Ausgaben sehr ansprechend ausgestattet. Und zu guter Letzt gehört der Verlag für dieses nicht risikolose Unternehmen belohnt. Was zählen da schon überbordende Regale?
In ›Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten‹ (1873/1874) treffen wir Raabe kurz nach seinem Umzug von Stuttgart nach Braunschweig an. Eine Zeit des Umbruchs auch in seinen Romanen. Weg vom souveränen Erzähler, hin zur Selbstreflexion. Nicht aus einer Perspektive wird erzählt, sondern gleiche mehrere werden den Lesenden angeboten. Raabe wird experimentierfreudig und wendet sich vom allgemeinen Publikumsgeschmack ab. Der Weg zum Spätwerk beginnt hier und so werden die Erfolge beim Publikum für Raabe sehr rar. Noch heute lesen manche Leserinnen und Leser, die die Realisten des 19. Jahrhunderts mögen, lieber Gutzkow oder Spielhagen als den späten Raabe. Das ist freilich legitim, aber ich gehöre nicht zu ihnen.
Wie gewohnt eine spärliche, lediglich angedeutete Einführung in die Handlung, denn der Roman will ja gelesen werden. Die Erzählung spielt zwischen 1857 und 1873. In der Ländlichkeit des Elmwalds bei Braunschweig leben der Holzschnitzer Autor Kunemund und der Förster Tofote mit seiner Tochter Gertrud. Diese, wenn man so will, Idylle wird gestört, als der jüngere Bruder Tofotes aus den holländischen Kolonien zurückkehrt. Der Bruder bringt nicht nur seinen dunkelhäutigen Diener, Ceretto Meyer, auch Wichselmeyer genannt, sondern auch ein großes Vermögen mit. Als der Bruder überraschend stirbt, erbt Gertraud, nun 18-jährig, Immobilien und Vermögen. Und alles beginnt sich zu ändern. Auch zum Leidwesen des jungen Steuermanns Karl Schaake. Der Seemann hatte ein Auge auf Gertraud geworfen.
Der nicht sehr erfolgreiche Schriftsteller Baron Emil von Schmidt ist der Erzähler im Roman. Er hat seinen Beruf als Bergassessor aus gesundheitlichen Gründen früh aufgeben müssen und lebt von dem Erbe seines Vaters. Er also erzählt von diesem Forsthaus, von der ersten Begegnung und episodisch, nicht immer zuverlässig, denn nicht alles kann er genau erinnern und überblicken, von weiteren Treffen mit dem Meister Kunemund und dessen Umfeld. Auch lässt der Weltmann von Schmidt den provinziellen Kunemund reichlich selbst zu Wort kommen.
Themen dieses Buches sind sozialer Aufstieg und was das mit Menschen macht, Kapitalismus, Kolonialismus, Stadtentwicklung während der Gründerzeit, Wandel von dörflichen und städtischen Milieus und ein Eisenbahnunfall mit fatalen Folgen. Wir sind also mitten in Thematiken, die auch heute noch ihre Geltung haben. Dabei ist die Erzählung kein sentimentaler Rückblick in die gute alte Zeit. Der Roman bietet viele Perspektiven, Brüche und seltsame Verknüpfungen an, die uns beschäftigen, wenn wir nur langsam und genau lesen.
Was das Personal angeht: Gern hätte ich gewusst, was am Ende bei Gertrud in ihrer Entwicklung stattgefunden hat? Emanzipation? Entfremdung? Wie so oft (es gibt kleine Lichtblicke) zeichnet Raabe seine weiblichen Protagonistinnen nur skizzenhaft. Aber wir haben da auch den klugen Philosophen Wichselmeyer, einen „Schwarzen Deutschen“, der „rein Bremerisch“ spricht. Bemerkenswert eine solche Figur im deutschsprachigen Realismus dieser Zeit.
Wieder einmal hat der Wallstein Verlag eine gute Wahl getroffen. Der Roman ist mehr als 150 Jahre alt und in seinen Themen erstaunlich aktuell und in seiner Poetik wegweisend. Und immer wieder: ich lerne mit Raabe lesen. Selbstverständlich ist solche Lektüre nicht jedermanns Sache, aber einen Versuch ist es wert. Der Text hat 177 Seiten, dazu wird ein Anhang von 64 Seiten geboten. Knapp die Hälfte des Anhangs macht das verständliche und hilfreiche Nachwort von Dirk Göttsche aus. Alles wirkt wohl proportioniert, eine wirklich in sich stimmige und durchdachte Ausgabe.
Zum Schluss ein langes Zitat, das mich sehr berührt hat (ich bin ja für so etwas zu haben). Es handelt von der Base Schaake, die ihren schwer verunglückten Neffen Karl pflegt:
Ich sage Ihnen, sie las – und was las sie? Den Robinson, und die Geschichte von dem fliegenden Holländer und vor allem andern die Geschichten von dem türkischen Kaufmann, der zu den Leuten kam, die das Gesicht mitten auf dem Bauche trugen, und der einen Walfisch für eine Insel hielt und mit seinen Kameraden ein Feuer drauf machte, um seine Suppe zu kochen. Was sie sonst von Reisen und Abenteuern auftreiben konnte, las sie und glaubte alles. Ihren Augen sahen Sie es nicht an, wie bunt es oft in ihrem Kopf herging. Sie reiste mit, die alte Frau, und erlebte auf ihrem Spinnstuhle die menschenmöglichsten Dinge. Ich habe oftmals mein Erstaunen und meine Verwunderung darüber gehabt, was für ein beschlagener Reisender sie war. O sie wußte dem Jungen, jedesmal wenn er heimkam, von ihrem Stuhle her mehr Merkwürdigkeiten zu berichten, als er ihr von seinem Schiffe aus.
Meine Ausgabe:
Wallstein Verlag 2025
Herausgegeben von Dirk Göttsche
Reihe: Wilhelm Raabe. Werke. Kritische kommentierte Ausgabe
245 Seiten,ISBN 978-3-8353-5971-0
Hm. Liest sich nicht gerade ermutigend. Bissel viel Themen für nur 170 Seiten. Raabe der Pfuscher am Text. Also viel anreißen, nix klären? – Immer gute Ideen. Immer auch schnell erlahmende Darstellungslust.
Bei Gutzkow und Spielhagen musste ich grinsen….
Spielhagen geht auf mich. Gutzkow nicht. Der ist auch so ein Seitenschinder vor dem HERRN.
Wer sich fürs literar. dt. 19. Jahrhundert interessiert, wird doch heuer eher auf Fontane und Storm umgeleitet.
Spielhagen überhaupt zu finden heißt doch schon literarisches Trüffelschwein geworden zu sein.
„Spielhagen gab dem Erzähltempo den Schwung der Industrialisierung.“(Wolzogen)
Nix für ungut.
In Sachen Raabe liegt hier noch der Abu Telfan…. Hm….Aber zur Zeit hab ich noch nen schönen Heyse in der Mache.
Tja, aber die Erwähnung von den beiden führte dazu, dass in meiner Mastodon-Bubble jemand nach Empfehlung für Spielhagen gefragt hat und den konnte ich dann auf deine schöne Seite über Spielhagen samt Empfehlungen verweisen. Sogar ich selbst schmökere grad (ganz unverbindlich versteht sich 😉 in ›Problematische Naturen‹.
Da siehste mal ….
WOW! RATTATATA ZONG!
Gibts ja nicht! Toll! Hoffentlich reichts diesmal zur Rezension (nich so wie beim Wildefuer) Ganz fest Daumen halt…
Der Herr kann auf eine Besprechung hoffen, fasse sich aber bitte in Geduld. Es kommt noch ein Buchclub Buch dazwischen (was, wird nicht verraten).
Der Held Oswald ist mir schon mal reichlich unsympathisch. Seine Art der Knabenliebe ist mir ein wenig suspekt. Aber auch ich übe mich in Geduld und Nachsicht …
Oje. Unsympathisch? Der ist doch der Gute?!
Knabenliebe? Der ist ein empathischer Junglehrer ohne Rohrstock. Spielhagen unterrichtete selbst als Hofmeister im Gutshaus und an einem privat geführten Gymnasium. Ihm wurde bewusst, dass Zuwendung/Bindung das Mittel zur Wissensvermittlung ist. 1862 ist das kosmisch weit voraus.
Außerdem schwingt mit, dass er sich schon fast als Stiefvater fühlt, er isja schockverliebt in Melitta … Spielhagen verarbeitet hier ein Schlüsselerlebnis, da es ihm einst selbst so ging. … Aber ich verrate jetzt nix.
Diese Rezension ist ein Meisterwerk und macht definitiv Lust darauf sich mit dem Buch zu beschäftigen.
Vielen lieben Dank Sabine. Dein großes Lob und Deine Lust auf das Buch freuen mich sehr.