Lit 1990-Heute

LANDGERICHT
Jung und Jung, 496 Seiten, ISBN 978-3-99027-024-0

Warum lese ich diesen Roman? Aufmerksam geworden wurde ich wieder einmal durch den Bücherdiwan auf Bayern 2, sowie den vielen Berichten in den Medien, denn Frau Krechel hat dieses Jahr für Landgericht den Deutschen Buchpreis erhalten. Und ich interessiere mich für Geschichte, vor allem Familiengeschichte. Was in den Köpfen der Menschen der jungen Bundesrepublik vor sich ging, ist für mich ein höchst interessantes Thema.

DES TEUFELS MASKERADE
Heyne Verlag, 544 Seiten, ISBN 978-3-453-52889-5

Dieser Buchtitel, das Cover mit stilisierten Flügeln und Maske verziert, rot, auf weißem Hintergrund… naja. Weiter lese ich auf der Rückseite und im Klappentext: Es ermittelt ein Büro für okkulte Angelegenheiten im Prag des Jahres 1909. Dejan Sirco, Hauptmann a.D und Hobby-Rennfahrer, ermittelt. Er wird unterstützt von eine lebensweisen Dirne namens Esther, Mirko, einem ehemaligen Straßenjungen, und nicht zuletzt von Lysander Sutcliffe, der, wirklich wahr, aufgrund eines magischen Unfalls als Otter leben muß. Der Fall? Nun, ein gewisser Felix Trubic, Geheimagent, wird von einem grausamen Familienfluch bedroht. Außerdem gibts da eine dunkle Verbindung aus Jugendtagen zu Dejan. Last but not least treibt Master Buckingham, seines Zeichens Vampir, sein Unwesen. Um ehrlich zu sein: das ist eher nichts für meinen Literaturgeschmack.
Doch es kam anders … und das kam so: „Fortunas Flug“, so heißt das aktuelle Buch von Victoria Schlederer, wurde sehr wohlwollend im Bücherdiwan auf Bayern2, den ich mir regelmäßig als Podcast auf mein iPhone lade und meist während meines Donauwalks höre, besprochen. Dabei wurde auch ihr Erstling und dessen Erfolg, eben „Des Teufels Maskerade“, erwähnt. Das machte mich neugierig und ließ mich ein preisgünstiges Mängelexemplar dieses 542 Seiten starken Debütromans erstehen und versuchen.
Zuerst fällt da die Form auf, „Des Teufels Maskerade“ ist nämlich eine Art Briefroman, genauer: die Handlung wird in Briefen und Tagebucheinträgen der Protagonisten erzählt. Das hat den Effekt, daß man allein durch die Sprache sich ins Zeitalter des Jugendstils zurückgeworfen fühlt. Der Roman spielt um 1909 mit Sprüngen zurück ans Ende des 19. Jahrhundert in Prag und Wien. Diese „Retrosprache“ ist der Autorin hervorragend gelungen, ganz ungekünstelt und mit viel Gespür für Witz und Ironie. Wer allerdings eine temporeiche Handlung erwartet, wird gänzlich enttäuscht. Finger weg! Denn selbst derjenige Leser, der viel Geduld aufbringt, wird manchmal ein wenig auf die Probe gestellt: das Buch hat durchaus Längen. Längen, die trotzdem unterhalten, aber man wünscht sich doch hier und da ein ganz klein wenig zügigeres Voranschreiten der Handlung, denn der Plot selbst paßt durchaus. Anders ausgedrückt: 350 statt über 500 Seiten, so wäre der Roman ein Hit gewesen. Noch ein kleine Schwäche sind die psychologisch nicht sehr fein gezeichneten Personen. Die Figuren sind überaus originell, wirklich nah kommen sie einem aber nicht. Das stört zwar nicht weiter, bleibt aber festzuhalten. So ist „Die Maskerade des Teufels“, angesiedelt zwischen den Genres Fantasy und Historischen Roman und doch ganz eigen, ein Buch, das richtig Appetit auf mehr macht: „Fortunas Flug“ ist bereits gekauft.

SPLITTER IM AUGE
Goldmann Verlag, 352 Seiten, ISBN 978-3-442-47546-9

Ich habe keine Ahnung, wie der Autor das gemacht hat: einen gewöhnlichen Kriminalroman, mit einem gewöhnlichen Plot geschrieben und doch etwas Besonderes geschaffen zu haben. Es muß mit den häufig wechselnden Erzählebenen und Perspektiven zu tun haben, denn der Plot selbst kommt eher konventionell daher …

Steiger, ein müde gewordener Ermittler der Kripo in Dortmund (und Schalke-Fan! das Leben kann hart zu einem sein),  läßt ein kürzlich abgeschlossener Fall nicht in Ruhe und gegen die Weisungen seiner Vorgesetzten geht er den Spuren erneut nach. Eine Entführung, der Tod seines Vaters, der Unerwartetes mit sich bringt, der nervtötende Polizeialltag, eine ehrgeizige  Kollegin an seiner Seite, dazu die tragische Geschichte eines Bruderpaares …. viele Stränge und Ebenen sind es, die in diesen fast 350 Seiten zusammenlaufen. Und es paßt! Die Figuren sind lebensecht (lediglich das Bruderpaar hätte ich mir noch ein wenig deutlicher gezeichnet gewünscht), die Konflikte hart und aus dem Leben, auf weinerliche Betroffenheit wird verzichtet. Der Showdown rasant, wenn auch klassisch und ohne wirkliche Überraschung.

Ich weiß immer noch nicht, wie er das gemacht hat, und ich muß es ja auch nicht wissen. Aber ich kann Splitter im Auge von Norbert Horst nur wärmstens empfehlen.

IM VISIER
Edition Moderne, 106 Seiten, ISBN 978-3-03731-085-4

Es ist spätabends, der Fernseher bleibt aus. Ich liege auf der Couch. Nippe gelegentlich am Glas Rotwein. Vor meinen Augen geht Martin Terrier seiner Arbeit nach. Er ist ein Berufskiller. Auf den ersten Seiten tötet er zwei Menschen in Liverpool, zurück in Paris lenkt er seinen Citroen durch die nächtliche Metropole. Er will aufhören, hat genug, will den Rest seiner Tage mit seiner Jugendliebe Alice verbringen. Doch das ist nicht so einfach, denn seinem Auftraggeber Mr. Cox paßt das gar nicht… es gibt eine Menge Probleme.

„Im Visier“ ist ein Thriller von Jean-Patrick Manchette. Gezeichnet hat ihn Jaques Tardi (120, Rue De La Gare [nach Malet], Elender Krieg [nach Verney], Der Dämon im Eis, Adeles ungewöhnliche Abenteuer). Tardi macht aus seinen Vorlagen stets etwas eigenes, er verändert nicht, sondern gibt etwas hinzu. Für mich ist er der beste Comiczeichner der Welt (keiner zeichnet das Paris der 1950er Jahre wie er). „Im Visier“ ist brutal, schnell, lakonisch, gnadenlos, mit den Bildern von Tardi unwiderstehlich.

Artikel in der TAZ über „Im Visier“:
http://www.taz.de/!85329/

VATERLAND
Heyne Verlag, 384 Seiten, ISBN 978-3-453-07205-3

Dem letzten Kapitel seines 1992 erschienen Romans Vaterland (engl.: Fatherland) stellt Robert Harris ein Zitat aus Primo Levis „Die Atempause“ voran. Levi läßt einen SS-Offizier Folgendes sagen: „Wie immer dieser Krieg auch enden mag, wir haben den Krieg gegen euch gewonnen; von euch wird niemand übrigbleiben, um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn jemand übrigbleiben sollte, würde die Welt ihm nicht glauben. Es wird vielleicht Verdacht geben, Diskussionen, Untersuchungen von Historikern, aber es wird keine Gewißheit geben, denn wir werden die Beweise zusammen mit euch zerstören. Und selbst wenn einige Beweise übrigbleiben und einige von euch überleben sollten, werden die Leute doch sagen, daß die Vorgänge, die ihr beschreibt, viel zu monströs sind, um glaubhaft zu sein: Sie werden sagen, daß das Übertreibungen der alliierten Propaganda sind, und uns glauben, die wir alles abstreiten werden, und nicht euch. Wir werden die Geschichte der Lager diktieren!“

HABIBI
Reprodukt, 672 Seiten, ISBN 978-3-941099-50-0

In dieser 2011 erschienenen Graphic Novel des Amerikaners Craig Thompson (sein „Blankets“ erhielt 2005 auf der Frankfurter Buchmesse den Preis als bestes Comic des Jahres) wird eine Geschichte wie aus Tausendundeiner Nacht erzählt, eine moderne Odyssee, eine islamische (und zugleich biblische) Mythologie in Bildern … eine Huldigung der Kalligraphie, des gesprochenen und geschriebenen Wortes und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Liebe. Die 660 Seiten von Habibi (zu übersetzten mit „mein Geliebter“) bieten das alles und noch vieles mehr … ein ganz und gar wunderbar-wunderliches Buch.

ALTE MEISTER
Suhrkamp Verlag, 158 Seiten, ISBN 978-3-518-46293-5

Waren Asterix und Obelix und später Hergés Tim und Struppi die Comic-Helden meiner Kindheit und Jugend (und grad Hergés Zeichnungen liebe und bewundere ich heute noch mehr), so wurde ich von Jaques Tardi in die Welt der Graphic Novel eingeführt. Sein Nester Burma ist der fleischgewordene Held aus den Geheimnissen von Paris von Leo Malet (und nicht der Burma dieser unsäglichen Fernsehreihe, die mit der Atmosphäre der Malet Krimis nichts gemein hat). Seit ich Tardi kenne interessieren mich Graphic Novels.

VOM ENDE EINER GESCHICHTE
Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, ISBN 978-3-462-04433-1

Vorgestern habe ich den neuen und vielgerühmten Roman Vom Ende einer Geschichte von Julian Barnes zu Ende gelesen. Aufmerksam wurde ich auf das Buch, weil es in allen Kulturmedien besprochen wurde, schließlich erhielt Barnes für diesen Roman den Booker Price. Von Julian Barnes kannte ich bisher Flauberts Papagei und die Kavanagh Krimis.

Zum Inhalt des aktuellen Buches:
Tony Webster ist Rentner, hat eine erfolgreiche Berufskarriere und eine Ehe (gütliche Trennung) hinter sich. Er erinnert sich 40 Jahre zurück, an seine Schulzeit und an den Tag, als Finn Adrian seiner Clique beitrat. Er war der mit Abstand intelligenteste von den vieren. Sex und Bücher, das waren die Themen der Freunde, sie probierten sich als moderne Dandys und diskutierten philosophische Fragen. Einen Bruch gab es, als Finn Tony die Freundin ausspann. Später aber geschah ein noch viel tieferer Einschnitt: Finn Adrian nahm sich das Leben. Der Grund hierfür blieb im Dunkeln. So erinnert sich Webster an seine Schulzeit bis er eines Tages ein Teil des Tagebuches Finn Adrians erhält. Und seine Erinnerung erweist sich nun als durchaus trügerisch…

WER DAS SCHWEIGEN BRICHT
Pendragon Verlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-86532-231-9

Monatlich stellt Die Zeit die zehn besten Krimis vor. Und im August hat dieser 200 Seiten Roman den ersten Platz gemacht. Grund genug, einen Krimi zwischen zu schieben. Und um es gleich zu sagen: ich wurde nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil.

Darum geht’s: Robert Lubisch findet im Nachlaß seiner Vaters, zu dem er zeitlebens ein schwieriges     Verhältnis hatte, das Foto einer schönen Frau und den SS Ausweis eines ihm Unbekannten. Was hat das zu     bedeuten? Kratzer in der makellosen Vita seines Vaters? Vor allem diese Ahnung treibt Lubisch junior an,   dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Er entdeckt rasch, daß keine amouröse Liebelei dahinter steckt und beauftragt die zielstrebige Journalistin Rita Albers, der wiederum schnell klar wird, daß aus dieser Geschichte eine richtig große Story werden könnte. Doch dann ist sie tot …

Der Roman spielt am Niederrhein und in Mallorca, Ende der 1990er Jahren und während der Nazizeit. Die Figuren sind nicht sehr fein gezeichnet, aber das stört nicht, sondern läßt Platz für eine rasante und komplexe Handlung. Diese hätte man auch durchaus auf 300 Seiten oder mehr dehnen können, doch es ist ein Gewinn, daß Frau Borrmann dieses nicht getan hat. Man ahnt während des Lesens das ein oder andere und ist am Ende doch ein wenig überrascht. So soll es sein, und deshalb ist dieser Kriminalroman für mich eine unbedingte Empfehlung!

ROTER GLAMOUR
Ariadne Krimi, 245 Seiten, ISBN 978-3-86754-192-3

Man muß das mögen: Du liest und liest, atemlos, ohne wirklich zu verstehen, was hier vor sich geht, aber gefangen von der Handlung, den kurzen Sätzen, den Sätzen wie Regieanweisungen, wie Pistolenschüsse. Nie Überflüssiges, kein Geschwafel. Doch wer sich darauf einläßt, wird am Schluß reich belohnt: denn tatsächlich erst auf den letzten Seiten, da klären sich die Geschehnisse und die Details erschließen sich. So soll es sein, oder?

Die Handlung von Roter Glamour spielt im Politiker Milieu, die ganz große Politik, Polizeidienste, Waffenhandel sind das Thema, Prostitution und der unerträgliche Chauvinismus von Karrieremännern (was das angeht, so fühlt man sich permanent an einen recht aktuellen Fall erinnert). Dabei kommt der Roman nie Moralisch daher. Nein, man hat den Eindruck, die Geschehnisse seien direkt der politischen Wirklichkeit abgeschaut.

Kurzum: wie schon „Letzte Schicht“ ist „Roter Glamour“ ein Politthriller auf allerhöchstem Niveau. Bravo!