Lit 1990-Heute

Deutscher Kunstverlag 2022, Hg.: Klassik Stiftung Weimar, Broschur, 112 S., ISBN: 978-3-422-98919-1

Arno Schmidt Lesern und Leserinnen dürfte Fanny Esterházy ein Begriff sein, hat sie doch 2016 den wundervollen Prachtband ›Arno Schmidt. Eine Bildbiographie‹ herausgegeben. Hier fungiert sie als Autorin des Bandes ›Wielandgut Oßmannstedt‹, den der Deutsche Kunstverlag in seiner Reihe ›Im Fokus‹ veröffentlicht hat. Das Gut bei Oßmannstedt diente dem Dichter Christoph Martin Wieland für sechs Jahre als Wohnsitz. Jahre in denen Wielands letzter Roman und Höhepunkt seines Schaffens ›Aristipp und einiger seiner Zeitgenossen‹ entstand.

Berlin Verlag 2023, 544 S., ISBN: 3827014646, aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, auch als E-Book erhältlich.

Die Pariserin Anne Brest ist Schauspielerin, Herausgeberin und Regisseurin. 2010 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Ein großer Erfolg wurde ›How to be a Parisian‹, ein Buch, das sie als Co-Autorin verfasste. 2017 ein Buch über ihre Urgroßmutter, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Claire schrieb: ›Ein Leben für die Avantgarde – Die Geschichte von Gabriële Buffet-Picabia‹. Mit ›Die Postkarte‹ 2021 dann ein Riesenerfolg: Bestsellerliste, Preise, hymnische Besprechung und nur sehr wenige kritische Stimmen. Ein Buch aus jener Kategorie also, die mich eher wenig interessiert. Hier eine Ausnahme, denn das Buch war ein Geschenk und hat mich nicht nur wegen des Themas in Atem gehalten.

Kamka 2023, 384 S., aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, ISBN 978-3311100447, auch als E-Book erhältlich.

Da ist er nun: Der neue Roman der Nobelpreisträgerin. »Ein feministisch-ökologischer Schauerroman, Olga Tokakarczuks hintersinnige Replik auf Thomas Manns Zauberberg« wie der Verlag schreibt. Ich habe den Zauberberg vor nicht allzu langer Zeit gelesen und ich war von Tokarczuks ›Ur und andere Zeiten‹ hingerissen. So musste man mich nicht allzu sehr überreden, damit ich zum Buch griff. Erst einmal hieß es, den Titel zu entschlüsseln: Empusa ist eine Schreckengestalt, eine Spukgestalt aus der griechischen Mythlogie. Und Empusa ist weiblich. Nun also begleiten wir Mieczysław Wojnicz bei seinem Weg aus Lemberg in das schlesische Lungensanatorium in Görbersdorf: Die Brehmer’schen Anstalten. Dem bekannten Lungensanatorium in Davos soll es als Vorbild gedient haben. Das Sanatorium gibt es heute noch, Gröbersdorf heißt heute Sokolowsko.

Hanser 2021, 256 S., ISBN 978-3-446-26940-8, übersetzt von Anke Caroline Burger, auch als E-Book erhältlich.

So ist das eben manchmal, wenn man in seiner Bücherblase unterwegs ist: Du triffst auf eine vielversprechende Autorin, deren Name für Dich gänzlich neu ist, während sie in den Feuilletons seit Jahren auf und ab besprochen wird. Nun gut. Ottessa Moshfegh wurde 1981 in Boston geboren und veröffentlichte ihren ersten Roman 2014. Ihre Romane und Erzählungen handeln von Frauen, die sich in psychischen Ausnahmesituationen befinden und deren innere Reisen in besonderen Lebenssituationen erzählt werden. Die Arbeit von Frau Moshfegh wurde mehrfach mit bedeutenden Literaturpreisen bedacht. ›Der Tod in ihren Händen‹ erschien im Original 2020 (Death in Her Hands) und ein Jahr später auf Deutsch beim Hanser Verlag, die Übersetzerin heißt Anke Caroline Burger. 

Suhrkamp 2022, 80  Seiten, ISBN 978-3-518-22539-4. Übersetzt von Sonja Finck. 

So kann es gehen: Du gehst in einen Buchladen, willst ein Buch in Augenschein nehmen, das dir dann aber nicht gefällt, doch so ganz ohne Fang willst auch nicht wieder raus. Ich hatte mich schon für eine illustrierte Undine Ausgabe entschieden, als ich die Buchhändlerin fragte: »Sag mal den Literaturnobelpreis boykottiert ihr, oder?« – »Neiiiiin!«, es sei eben nur alles weg, für die lokalen Buchhandlungen nix mehr zu kriegen. Aber zwei Bänden der aktuellen Veröffentlichung wären noch da, bei der Kasse. Und so nehme ich ein Bändchen mit nach Hause und lese mein erstes Ernaux-Buch. Sogar gleich zweimal hintereinander, am Abend und am Morgen danach, denn allzu umfangreich ist ›Das andere Mädchen‹ nicht. Ich hatte schon so oft von der Ernaux gehört, aber noch nie etwas gelesen. Nun denn …. jetzt aber los.

Tropen Verlag 2018, 159 S., ISBN 978-3-608-50387-6, übersetzt von Barbara Mesquita, auch als E-Book erhältlich

Vorweg: Patrícia Melos knapp 160 Seiten starker Roman »Der Nachbar« ist kein Kriminalroman, auch wenn er als solcher gekennzeichnet ist. Vielmehr entwickelt sich hier auf höchst originelle Art und Weise eine Groteske, ein sarkastisches Stück, das als Psychogramm eines lärmempfindlichen, vom Leben enttäuschten und frustrierten Mannes, aber auch als eine Art Psychogramm der brasilianischen Gesellschaft gelesen werden kann. Die 1962 in São Paulo geborene Schriftstellerin Patrícia Melo, ausgezeichnet mit Literatur- und Krimipreisen, hat dieses schnelle, intelligente und unterhaltsame Buch 2017 geschrieben, auf Deutsch kam es 2018 heraus, übersetzt wurde es aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita.

Berenberg Verlag 2020 (2015), 160 Seiten, ISBN 978-3-946334-88-0, auch als E-Book erhältlich.

Nun können wir es wieder kaufen, dieses kleine, feine Meisterstück der Autorin Christine Wunnicke von 2015: »Der Fuchs und Dr. Shimamura«. 144 Seiten in der vergriffenen, gebundenen Ausgabe, 160 Seiten hat die neue Klappenbroschur, die Ende 2020 erschienen ist. Beide Ausgaben bei Berenberg, beide Ausgaben ein Augenschmaus. Genug um an dieses Buch in meinem Blog zu erinnern, auch wenn es schon bei seinem ersten Erscheinen vor sechs Jahren für reichlich Furore gesorgt hat. Der kleine Roman über den historisch belegten Dr. Shimamura handelt von der Fuchskrankheit, von Seelenkunde und Aberglaube in Japan, von den Anfängen der neurologischen Forschung in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts und das Buch zeigt, was Literatur mit diesen Themen so alles anfangen kann.

Rowohlt 2020, 336 S., ISBN: 978-3-7371-0085-4

Noch kein Buchgeschenk zu Weihnachten? Ich hätte einen Vorschlag zu unterbreiten, bei dem mit einiger Sicherheit auch im Last-Minute-Modus ein Treffer zu landen ist. Mit dem Bestseller »Handbuch für Zeitreisende« der »Sachbuchautorin und Sachausdenkerin« Kathrin Passig und dem Astronomen Aleks Scholz kann man kaum etwas falsch machen. Man entflieht diesem schnöden 2020 auf äußerst elegante Weise. Wir setzen die Existenz von Paralleluniversen voraus und schon macht alles hier Geschriebene Sinn. Es werden  Stippvisiten in verschiedenste Epochen der Menschheit unternommen, urgeschichtle Exkursionen besprochen und selbst ein Flug Richtung Urknall wird erörtert (und nicht empfohlen). Der Ton ist durchaus nicht ironiefrei, kommt aber ohne nervtötende Flapsigkeit aus. Größten Wert wird auf praktische Nutzbarkeit und das Vermeiden fataler Fettnäpfchen gelegt. Vor Antritt der Reise also das »Handbuch für Zeitreisende« lesen und es kann fast nichts mehr schiefgehen. Ein ideales Verschenkbuch für Frühbucher, nicht nur zur Weihnachtszeit.

Klöpfer, narr 2019, 268 S., ISBN 978-3-7496-1003-7

Schaut man sich in Wikipedia nach dem Stichwort »Sibyllinische Bücher«, dieser legendären griechischen Sammlung von Orakelsprüchen, um, kommt man schnurstracks auf Sibylle von Cumae und den letzten römischen König Tarquinius Superbus. Nimmt man den griechischen Gott Phoebus Apollon dazu, hat man im Wesentlichen das Personal beisammen, mit dem Sibylle Knauss ihre Zeitreise von der legendären Zeit der griechischen Götter bis zu unserer wohl nicht mehr allzu weit entfernten düsteren Zukunft antreten lässt. Die Autorin will unterhalten, das ist ihr Anspruch an Literatur. Und so wagt sie immer wieder Neues, wie auf dem Buchdeckel verraten wird. Hier also ein Buch über Sibylle von Cumae. Wir sind über 500 Jahre vor Christi Geburt: Sibylle hat eine Liaison mit dem Gott Apollon und als Folge wird sie eine Seherin und »Eine unsterbliche Frau«.

Kiepenheuer&Witsch 2020, 288 S., ISBN: 978-3-462-05256-5

Thomas Hettche ist Jahrgang 1964 und hat »Der Fall Arbogast«, »Die Pfaueninsel« (dafür erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis) und viele andere geschätzte und vielbeachtete Romane geschrieben. Das Thema seines jüngsten Buches ist die Augsburger Puppenkiste. Fast ein Selbstläufer möchte man meinen, denn wer kennt sie nicht: Jim Knopf und Lukas, die Prinzessin Li Si, das Urmel, die traurigen Ohrwürmer des Seele-Fanten, Kalle Wirsch und so fort – eine schier unendliche Reihe unvergessener Figuren des legendären Marionettentheaters aus Augsburg. Fasziniert hat die Puppenkiste aus Augsburg auch mich und ich lade bis heute ab und an bei Kaffee und Kuchen das Urmel, Kim Knopf oder Kalle Wirsch zu mir nach Hause ein. Von der Kraft der Phantasie in dunkler Zeit handelt dieses Buch, so verspricht der Verlag. Und so war ich sehr gespannt auf »Herzfaden«, den Roman der Augsburger Puppenkiste.