S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN: 978-3-10-015557-3, 784 Seiten, als Taschenbuch und E-Book erhältlich
Also noch einmal 775 Seiten gelesen und den Lesemarathon der vier Bände des Erzählwerks »November 1918. Eine deutsche Revolution« von Alfred Döblin über die Ziellinie gebracht. 1943 hatte Döblin es endlich geschafft und den Riesenroman mit diesem vierten Teil unter schwierigen Umständen (quälende Sorge um die Söhne, stark eingeschränkter Quellenzugang, finanzielle Situation) im Exil in Los Angeles abgeschlossen. Es sollte für den Autor im weiteren Verlauf der Jahre allerdings schwierig werden, Verleger und Publikum zu finden. Die Beachtung eines Thomas Manns blieb Alfred Döblin trotz immensen Arbeitspensums ein Leben lang verwehrt. Dieser letzte Band erzählt beginnend mit der Haft Rosa Luxemburgs von Mitte Dezember 1918 bis zum Tod von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919. Neben der großen Revolutionärin als historische Person ist der fiktive ehemalige Lehrer Friedrich Becker eine Hauptperson dieses Buches. Aber auch das Leben des einst berühmten Dramatikers Erwin Stauffers wird weiter erzählt.
Der Band »Karl und Rosa« beginnt etwa hundert Seiten lang mit der Haftzeit Luxemburgs und erstaunt und irritiert zugleich: Rosa imaginiert im Gefängnis in Breslau ihren gefallenen Freund und Geliebten Hans Diefenbach, nach dessen Präsenz sie sich sehnt. Dabei betrauert sie einsam in ihrer Zelle sitzend ebenso all die Toten und Verstümmelten des Krieges wie die unheilvollen Fügungen der Weltordnung. Die LeserInnen befinden sich im ersten Kapitel über weite Strecken in einer Art gruseligen Geisterwelt. Das erinnert doch alles sehr an die Phantasien des kriegsheimgekehrten Beckers, der nach Gott sucht. Bei Rosa allerdings wird ohne Gott halluziniert. Ich muss zugeben, dass ich mir die Figur Rosas anders vorgestellt hatte, weniger als eine aus ihren Briefen heraus weitergesponne Gestalt, sondern mehr als historisch handelnde Person. Zwar wird sie als Karl Liebknecht durchaus überlegende, weil weitsichtig und klüger denkende Person geschildert, aber vergleiche ich sie mit dem historischen Ebert oder dem erdachten Becker, bleibt Rosa mir zu viel Träumende, zu wenig Agierende. Tatsächlich habe ich es während der Lektüre bedauert, relativ wenig über Rosa Luxemburg zu wissen. Gelesen von ihr habe ich lediglich einige ihrer Briefe und Döblin zeichnet ihr Leben eben nicht sehr vielschichtig.
Auch Becker träumt ordentlich weiter und sucht nach religiöser Existenz, dabei hat er aber auch sehr reale Momente: Im Falle des der Homosexualität bezichtigten Direktors der Schule, an der Becker vergeblich versucht seine Lehrerexistenz weiterzuführen, agiert dieser couragiert und menschlich. Gesteigert wird dies noch als Becker versucht, einen in diesen Schulskandal tragisch verwickelten Schüler aus dem besetzten Polizeipräsidium zu retten, und er anschließend mit Hilfe der Krankenschwester Hilde und seiner Mutter (neben Rosa noch zwei gleichsam heilige Frauengestalten des Romans) in einem waghalsigen Husarenstück aus der bewachten Krankenabteilung entkommen wird. Doch der Wahn behält ihn letzten Endes doch im Griff. Die LeserInnen werden ihn bis zu seinem jämmerlichen Tod begleiten.
Neben diesen Geistersequenzen, bei Becker notwendig, bei Rosa auf Dauer nervend und einen anderen Blick verschließend, gibt es auch zwei ganz großartige phantastische Abschnitte in diesem Buch: Zum einen als die Kieler Matrosen (revolutionär oder nicht revolutionär, man weiß es nicht so genau) im Finanzministerium ihren Lohn einfordern und das Ganze zu einer feucht und fröhlichen Veranstaltung wird (und genial den wahnwitzigen Aspekt der Ereignisse zeigt), zum anderen werden ehrwürdige Gipsdenkmäler in der Siegesallee während einer Gefallenenfeier ihre Sockel verlassen. Beide Passagen sind hinreißend, auch wenn sie in ihrer gewagten Art ein wenig überraschend daherkommen.
Und der historische Aspekt? Döblins Sicht der Dinge ist eindeutig, klar und polemisch: Ebert ist ein Verräter der Revolution. »Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat«, schrieb später Sebastian Haffner. Dieses Zitat deckt sich mit dem Urteil, dass Döblin in seinem Werk fällt. Die Revolution selbst trägt bei aller Tragik und Brutalität zum Teil operettenhafte Züge, die Bevölkerung bleibt größtenteils desinteressiert und kümmert sich ums Überleben. Nicht die Einrichtung einer Nationalversammlung, sondern dass der Einfluss des Militärs, der Junker und Nationalisten nicht eingeschränkt werden konnte, zeigt das Scheitern der Revolution und streut die Saat für folgende Katastrophen.
Mein Fazit nach Lesung aller vier Bände von Döblins »November 1918. Eine deutsche Revolution«: Nicht immer überzeugt alles vollständig, meine größte Enttäuschung ist sicher die Figur der Rosa Luxemburg. Döblins persönliche Auseinandersetzung mit Religiosität und Mystik, er selbst war Anfang der 1940er Jahre zum Katholizismus übergetreten, setzt deutliche Spuren. Und das in einem Werk, welches die deutsche Revolution von 1918/19 behandelt! So ist dieser Roman mit Sicherheit nicht einheitlich, aus einem Guss geschrieben zu nennen. Zeitlicher Abstand und Bedingungen der Entstehung machten das unmöglich. Aber immer wenn ich ein wenig genervt über Geisterweltpassagen (auch hinweg) las, folgte darauf ein Kapitel voll Döblinscher Ironie, Schärfe und Fabulierkunst. Dieses Erzählwerk hielt mich bei der Stange, über 2200 Seiten lang. Das haben noch nicht viele Romane dieser Größenordnung geschafft.