
Rezensionsanfragen begegne ich eher zurückhaltend: Zu groß sind die Lücken meines persönlichen Kanons, zu kurz währt die Lebenszeit abseits des Broterwerbs. Doch manchmal werden bei näherer Betrachtung ein Thema oder auch ein Name zu interessant, als dass ich mich nicht darauf einlassen wollte. Lina Morgenstern, den Namen hatte ich noch nie gehört, aber Wikipedia klärte mich auf, dass diese Frau einst von Bedeutung war. Von großer Bedeutung. Anlässlich ihres 70. Geburtstages im Jahre 1900 wurde sie zu den fünf bedeutendsten Persönlichkeiten Berlins gewählt und sie war wie der Autor Gerhard J. Rekel in einem Interview erklärte, die berühmteste Frau der Stadt. Eine Bürgerliche, eine Sozialreformerin, eine Frauenrechtlerin, eine Gründerin, eine Autorin und laut Untertitel der Biographie auch eine Rebellin. Diese Frau will ich kennenlernen.
Geboren wird Lina Morgenstern 1830 als Lina Bauer in eine wohlhabende Breslauer Familie jüdischen Glaubens. Früh zeigt sich, dass Lina weder die ungerechtfertigten Beschränkungen von Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und junge Frauen, noch das Elend und die Armut großer Teile der Berliner Bevölkerung akzeptieren will: Eine innere Rebellion gegen scheinbar gottgegebene Verhältnisse findet statt und verlangt Taten. Lina liest Rachel Varnhagen, Bettine von Arnims politische Schriften und ein Religionslehrer ermutigt sie, selbstständig zu denken. Lina Morgenstern wird aber keine Revolutionärin im herkömmlichen Sinne werden und mit einer Clara Zetkin von der SPD (als diese noch eine revolutionäre Partei war) wird sie zeitlebens fremdeln (und diese mit ihr). Sie bleibt eine Bürgerliche, die auch ihre guten Beziehungen zu der preußischen Königin Augusta für ihre Zwecke zu nutzen weiß. Allerdings wird Lina Morgenstern später für ihre Projekte auch die eigene Existenz in die Waagschale legen. Zweimal in ihrem Leben wird sie aufgrund fehlschlagender Projekte bankrott gehen.
Am Ende ihres Lebens 1910 wird Morgenstern über 30 Vereine gegründet haben. Viele davon würden wir heute als Start-ups bezeichnen: Der Pfennigverein zu Unterstützung armer Schulkinder, Verein der Berliner Volksküchen, Förderung von Kindergärten, Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen, Weiterbildung in Bereichen der Gesundheit, Hygiene und Krankenpflege … die Liste ihrer Themen ist lang. Einige diese Gründungen werden außergewöhnlich folgenreich sein, wie die Volksküchen, der Pfennigverein und vor allem auch die ›Deutsche Hausfrauen-Zeitung‹, eine Vorläuferin der Frauenzeitschriften. Doch dem nicht genug: Lina Morgenstern tritt auch als Autorin in Erscheinung. Bücher über Erziehung, Ernährung und Kochen, aber auch Erzählungen und Märchen, Schriften zu Galileo Galilei, zu dem Pädagogen Friedrich Fröbel, dessen Werke sie früh beeinflusst haben, zu berühmten Frauen der Geschichte. Sie gibt 1881 das ›Universalkochbuch für Gesunde und Kranke‹ heraus (1930 die 11. Auflage!). Gegen Ende ihres Lebens veröffentlicht sie ein Kochbuch für die fett- und fleischlose Küche! Und natürlich sind Frauenrechte immer wieder ein Thema.
Diese schier unglaubliche Lebensleistung komprimiert der österreichische Wissenschaftsjournalist, Drehbuch- und Romanautor Gerhard J. Rekel auf gut 200 Seiten. Im ersten von 41 Kapiteln springt er in das Jahr 1870. Die Franzosen sind besiegt und die Truppen kehren heim und auf der Durchreise machen abertausende Soldaten in Berlin Station. Und niemand scheint sich für das Elend der hungrigen, verletzten und sterbendenSieger zu interessieren. Die mit ihren Suppenküchen bekannt gewordene Morgenstern wird von der überforderten Regierung herbeizitiert. Lina Morgenstern und ihre Kolleginnen sorgen für Essen, richten eine Feldpoststelle ein und kümmern sich, so gut es eben geht, um die vielen Verwundeten. Die Herren haben für das Elend gesorgt, die Frauen um Lina Morgenstern geben alles, um dieses zu lindern. Dank? Nein, im Gegenteil: Sie und ihre Helferin werden von Regierungsstellen schikaniert und von Patrioten als Verräterinnen beschimpft (die Frauen hatten es gewagt, auch französischen Soldaten zu helfen). Auch antisemitische Ressentiments und Hetzkampagnen dürfen nicht fehlen (viele Jahre später, 1942 wird Linas 87-jährige Tochter Clara von den Nazis deportiert und ermordet). Rekel sieht in diesen Ereignissen von 1870 eine Art Initialzündung für Morgensterns Kampf für Gleichberechtigung. Ab Kapitel zwei geht es dann beginnend mit Linas Kindheit und Jugend chronologisch weiter, auf Seite 85 erst werden die Ereignisse dieser Ouvertüre eingeholt.
Es ist nicht zu verhehlen, dass der Autor seinem »Gegenstand« viel Sympathie und Bewunderung entgegenbringt, gleichwohl lässt Rekel auch Ambivalentes zu. In diesem Buch steckt außerordentlich viel Quellenarbeit. Die Biographie listet 741 Anmerkungen auf, das meiste davon sind Quellenangaben. Man könnte durchaus sagen, dass Rekel in seinem Buch die Quellen sprechen lässt. Neben dem eigentlichen Text, der durch einige nützliche Abbildungen bereichert wird, haben noch Listen der wichtigsten Vereine und Bücher Morgensterns ihren Platz im Buch, sowie eine Karte, die das Netz der 17 Volksküchen in Berlin zeigt. An einigen dieser Orte befinden sich heute Gedenktafeln. Es gibt ferner ein paar Rezepte aus dem Universalkochbuch zu studieren und auch eine Zeittafel und Danksagungen fehlen nicht.
Ich bin nach der Lektüre von Gerhard J. Rekels ›Lina Morgenstern. Die Geschichte einer Rebellin‹ beeindruckt von dieser energiegeladen, kreativen, widerständigen und intelligenten Frau. Neben diesen vielen in die Zukunft weisenden Projekten beeindruckte mich besonders, wie es Morgenstern schaffte, als Frau des 19. Jahrhunderts elementarer bürgerlicher Rechte beraubt, Häme, Antisemitismus und Männerseilschaften ausgesetzt, dieses Lebenswerk zu schaffen. Wie sie zum Beispiel trotz größter Schwierigkeiten 1896 den 1. Internationalen Frauenkongress in Deutschland organisierte und zu einem Erfolg machte! Und nicht zuletzt, wie Lina Morgenstern eine moderne und glückliche Ehe führte: Ihr Mann Theodor Morgenstern stand ihr beiseite und unterstützte sie (um nicht die dumme Metapher vom freigehaltenen Rücken zu bemühen), soweit er das vermochte. Das Buch über Lisa Morgenstern versetzt uns en passant in die Verhältnisse in Deutschland (Preußen) zwischen 1848 und 1910 und zeigt, wie wenig wir doch in vielen Dingen von dieser Zeit entfernt sind. Nein, Zetkins Sozialismus hat die Frauenfrage ebenso wenig lösen können, wie ein bürgerlich-demokratisches Deutschland. ›Lisa Morgenstern. Die Geschichte einer Rebellin‹ regt an, diesen Missstand nicht hinzunehmen.
- Das Buch: Kremayr und Scheriau Verlag Wien 2025, 264 Seiten, ISBN 9783218014670, auch als E-Book erhältlich.
- Ein weiterführender Link zu einem Interview des Autors mit dem ›Leo Baeck Institut e.V.‹

Interessant. ,,Meine“ Zeit sozusagen. Nur eins stört mich: Da scheint man wieder bestrebt zu sei, den letzten deutschen Sieg ,,madig“ machen zu wollen. (Der übliche Geschichtsmasochismus auch hier?)
Ich habe auch allerhand über jene Zeit gelesen und das eigentlich verblüffende war stets, das bei allem Geschreibsel von Erbfeindschaft französische Kriegsgefangene 70/71 ziemlich gut behandelt wurden, es entstand ja auch das damals berühmte Gemälde „ein letzter Trunk“ (ein verletzter Deutscher und ein ebensolcher Zuave auf dem Schlachtfeld teilen sich eine Feldflasche),
Vielerorts galten die gefangenen Franzosen als exotische Besonderheiten für Bauerntöchter und Mägde. Sie wurden als Erntehelfer verwendet und schäkerten, was das Zeug hält. In meiner vollständigsten Darstellung des Krieges (sie stammt von 1873)wird das vom Autor ausdrücklich beklagt. In Stettin wurden frz. Offiziere in die Abendgesellschaften preussischer Offz. geladen usw. …
Geschichtsmasochismus? Den Begriff halte ich für unangebracht. Und Frau Morgenstern war vor Ort und die Notlage beim Rückzug der Truppen bestand. Noch dazu: Offiziere wurden ja nun prinzipiell besser behandelt als der gemeine Fußsoldat. Vielleicht hast Du Glück und kommst an die Quelle?
Lina Morgenstern: Erinnerungsblätter aus dem Kriegsjahr 1870/71. Die Verpflegung durchziehender Truppen, Verwundeter und Gefangener auf den Ost- und Niederschlesischen Bahnhöfen,Berlin 1895.
Viele Grüße!
Vielen Dank für diese sehr spannende Buchvorstellung!
(… und Respekt für Deine Geduld mit Kommentaren über „üblichen Geschichtsmasochismus“)
Vielen lieben Dank, Andrea! Das freut mich wirklich sehr.
Ein schönes Wochenende wünsche ich Dr,
Lena
Ich hatte es ja lediglich als Frage formuliert. Dass beim Thema Truppenverpflegung Missmanagement und Korruption blühen, gilt für alle Armeen weltweit. Schon bei Manövern im Frieden klappt da wenig. Selber erlebt 1980.
Ach, abwink…
Bin halt mit den Jahren misstrauischer geworden, was so Historiker angeht, die Biographien schreiben.
Schaffen sie es, der anderen Denke von vor hundert oder zweihundert Jahren gerecht zu werden, oder nicht?
Keine Ahnung. Kenne ja das Buch nicht.
Formulierte nur meine Skepsis, deren Ursache diverse WELT Artikel zu Schlachtenjubiläen von 1870- und so TV- Spiele ala „Kaiserspiel“ vom ZDF sind, wo heldische Kommunardinnen „fair“ Bäckereien enteignen und fast noch 1871 den Krieg gewinnen. Auch dieses Ding hatte eine „historische Beratung“ laut Abspann.
Nix für ungut.