Lit Frauen

Aufbau Verlag 2024, 304 S., Übersetzung aus dem Amerikanischen: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg, ISBN: 978-3-351-04224-0, auch als E-Book erhältlich.

Dass ich einen Band von Erzählungen von der ersten bis zur letzten Geschichte mit Interesse durchlese, kommt nicht allzu oft vor. Bei Diane Olivers ›Nachbarn‹ ist das geschehen. Das Buch kam in diesem Jahr heraus und ist eine Besonderheit. Die Autorin Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina geboren und verstarb mit 22 Jahren bei einem Verkehrsunfall. Bis zu ihrem frühen Tod 1966 waren vier ihrer Kurzgeschichten veröffentlicht. Sie galt als großes Talent und geriet dann in Vergessenheit, bis sie jetzt wiederentdeckt wurde. Diane Olivier wuchs in einer afroamerikanischen Mittelschicht Familie auf und so waren ihre Themen besonders stark vom Leben mit und dem Aufbegehren gegen die herrschende Segregation geprägt. Dies sind Themen des Buches, doch ist es die erzählerische Perspektive, die diese 14 Geschichten noch heute so außergewöhnlich gut lesbar macht .

Berlin Verlag 2023, 544 S., ISBN: 3827014646, aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, auch als E-Book erhältlich.

Die Pariserin Anne Brest ist Schauspielerin, Herausgeberin und Regisseurin. 2010 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Ein großer Erfolg wurde ›How to be a Parisian‹, ein Buch, das sie als Co-Autorin verfasste. 2017 ein Buch über ihre Urgroßmutter, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Claire schrieb: ›Ein Leben für die Avantgarde – Die Geschichte von Gabriële Buffet-Picabia‹. Mit ›Die Postkarte‹ 2021 dann ein Riesenerfolg: Bestsellerliste, Preise, hymnische Besprechung und nur sehr wenige kritische Stimmen. Ein Buch aus jener Kategorie also, die mich eher wenig interessiert. Hier eine Ausnahme, denn das Buch war ein Geschenk und hat mich nicht nur wegen des Themas in Atem gehalten.

Kamka 2023, 384 S., aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, ISBN 978-3311100447, auch als E-Book erhältlich.

Da ist er nun: Der neue Roman der Nobelpreisträgerin. »Ein feministisch-ökologischer Schauerroman, Olga Tokakarczuks hintersinnige Replik auf Thomas Manns Zauberberg« wie der Verlag schreibt. Ich habe den Zauberberg vor nicht allzu langer Zeit gelesen und ich war von Tokarczuks ›Ur und andere Zeiten‹ hingerissen. So musste man mich nicht allzu sehr überreden, damit ich zum Buch griff. Erst einmal hieß es, den Titel zu entschlüsseln: Empusa ist eine Schreckengestalt, eine Spukgestalt aus der griechischen Mythlogie. Und Empusa ist weiblich. Nun also begleiten wir Mieczysław Wojnicz bei seinem Weg aus Lemberg in das schlesische Lungensanatorium in Görbersdorf: Die Brehmer’schen Anstalten. Dem bekannten Lungensanatorium in Davos soll es als Vorbild gedient haben. Das Sanatorium gibt es heute noch, Gröbersdorf heißt heute Sokolowsko.

Hanser 2021, 256 S., ISBN 978-3-446-26940-8, übersetzt von Anke Caroline Burger, auch als E-Book erhältlich.

So ist das eben manchmal, wenn man in seiner Bücherblase unterwegs ist: Du triffst auf eine vielversprechende Autorin, deren Name für Dich gänzlich neu ist, während sie in den Feuilletons seit Jahren auf und ab besprochen wird. Nun gut. Ottessa Moshfegh wurde 1981 in Boston geboren und veröffentlichte ihren ersten Roman 2014. Ihre Romane und Erzählungen handeln von Frauen, die sich in psychischen Ausnahmesituationen befinden und deren innere Reisen in besonderen Lebenssituationen erzählt werden. Die Arbeit von Frau Moshfegh wurde mehrfach mit bedeutenden Literaturpreisen bedacht. ›Der Tod in ihren Händen‹ erschien im Original 2020 (Death in Her Hands) und ein Jahr später auf Deutsch beim Hanser Verlag, die Übersetzerin heißt Anke Caroline Burger. 

Oktopus/Kampa Verlag 2022, 255 S., grundlegende Überarbeitung der Übersetzung von Maria Wolff, ISBN: 978-3-311-30035-9, auch als E-Book erhältlich.

›The Daughter of Time‹ hieß die Originalausgabe von 1951, ›Richard der Verleumdete‹ die erste deutsche Übersetzung von Maria Wolff aus dem Jahre 1959, in der Neuausgabe des Kampa Verlags in seinem Oktopus Programm heißt der Titel jetzt ›Alibi für einen König‹. Josephine Tey hieß eigentlich Elizabeth Mackintosch. Sie wurde 1896 in Schottland geboren und starb 1952, ein Jahr nach Veröffentlichung des hier vorgestellten Romans, in London. Gordon Daviot war ein weiteres Pseudonym, das die Autorin dann nutzte, wenn sie Theaterstücke schrieb. Tey gehörte zur Generation der Agatha Christies oder Dorothy L. Sayers unterschied sich von diesen aber dadurch, dass sie mit den gängigen Stilmitteln brach. Und das macht sie eben interessant.

Suhrkamp 2022, 80  Seiten, ISBN 978-3-518-22539-4. Übersetzt von Sonja Finck. 

So kann es gehen: Du gehst in einen Buchladen, willst ein Buch in Augenschein nehmen, das dir dann aber nicht gefällt, doch so ganz ohne Fang willst auch nicht wieder raus. Ich hatte mich schon für eine illustrierte Undine Ausgabe entschieden, als ich die Buchhändlerin fragte: »Sag mal den Literaturnobelpreis boykottiert ihr, oder?« – »Neiiiiin!«, es sei eben nur alles weg, für die lokalen Buchhandlungen nix mehr zu kriegen. Aber zwei Bänden der aktuellen Veröffentlichung wären noch da, bei der Kasse. Und so nehme ich ein Bändchen mit nach Hause und lese mein erstes Ernaux-Buch. Sogar gleich zweimal hintereinander, am Abend und am Morgen danach, denn allzu umfangreich ist ›Das andere Mädchen‹ nicht. Ich hatte schon so oft von der Ernaux gehört, aber noch nie etwas gelesen. Nun denn …. jetzt aber los.

dtv 2012, 304 Seiten, ISBN: 978-3423346719

Die Dichterin Mascha Kaléko: »Witzig-melancholische Lyrik« heißt es lapidar in meinem dtv-Lexikon von 1995, in der 21-bändigen Kindler Literaturlexikon von 1996 gibt es keinen einzigen Eintrag, in der aktuellen digitalen Ausgabe hat man ihr einen Artikel gewidmet. Sie hat Erfolg bei ihren Lesern, während die Germanisten noch darüber streiten, ob sie in den Kanon gehört oder nicht. Mascha Kaléko selbst sieht sich in der Tradition von Heinrich Heine dichtend, oft wird sie mit Tucholsky, Ringelnatz oder Kästner verglichen und die ›Neue Sachlichkeit‹ wird mit ihr in Verbindung gebracht. Fangen wir also mit den wichtigsten Lebensdaten an: Geboren wird die Dichterin 1907 als Golda Malka Aufen in Chrzanów (West-Galizien), gestorben ist sie 1975 in Zürich. Jutta Rosenkranz hat das unstete Leben der Lyrikerin 2007 und in einer aktualisierten und erweiterten Auflage 2012 nachgezeichnet.

Septime Verlag 2016, 504 S., ISBN: 978-3902711465, aus dem amerikanischen Englisch von Bella Wohl. Auch als E-Book erhältlich.

Was ein Leben. Geboren wurde Alice B. Sheldon 1915 in eine wohlhabende Familie aus Chicago, unternahm früh Reisen nach Afrika und Asien, arbeitete als Kunstkritikerin, war für den Geheimdienst tätig, bewirtschaftete eine Hühnerfarm und noch so manches mehr. Sie nahm sich 1987 das Leben, nachdem sie ihren schwer erkrankten und pflegebedürftigen Mann getötet hatte. Um mehr zu erfahren, lese man in Wikipedia oder in Julie Phillips opulenter Biographie nach. Mit 52 Jahren begann Alice B. Sheldon Kurzgeschichten zu schreiben und wählte in einem männlich dominierten Literaturbetrieb das Pseudonym James Tiptree Jr.. Heute können wir erfreulicherweise im Septime Verlag aus sieben Bänden Kurzgeschichten wählen: Großartige Science-Fiction, die der Qualität eines Philip K. Dick in nichts nachsteht. Ihr Stil ist stets pointiert, einfallsreich, lakonisch, Geschlechterrollen und -klischees werden in Frage gestellt, kurz: Die SF der Alice B. Sheldon zeigte und zeigt, was in diesem Genre möglich ist. Spät versuchte sie sich an zwei Romanen. Der erste Roman, ›Up the walls of the world‹ auf Deutsch ›Die Mauern der Welt hoch‹, erschien 1978. Ich habe ihn gelesen.

Diogenes 2011, überarbeitete Übersetzung von Richard Moering (1958), 192 S., als Hardcover, Taschenbuch oder E-Book erhältlich

Nachdem ich Carson McCullers erfolgreichstes Buch, ihren Erstling »Das Herz ist ein einsamer Jäger« mehrfach schon gelesen haben, wurde es an der Zeit, den zweiten von vier Romanen zur Hand zu nehmen: »Spiegelbild im goldenen Auge«, »Reflections in a Golden Eye« von 1941. Wir erfahren bereits auf der ersten Seiten, dass in einer Garnisonsstadt in den Südstaaten in der Regel nichts Außergewöhnliches passiert »… denn wer einmal ins Heer eingetreten ist, braucht fortan in allem nur noch seinem Vordermann nachzueifern.« Anders aber in dieser Geschichte, in der ein Mord geschehen werde, an dem zwei Offiziere, ein Soldat, zwei Frauen, ein Filipino und ein Pferd beteiligt sind. Der angekündigte Mord geschieht tatsächlich am Ende des Kurzromans in vier Teilen und wir Leser und Leserinnen folgen bis dahin  einer unheilvollen Tragödie.

Tropen Verlag 2018, 159 S., ISBN 978-3-608-50387-6, übersetzt von Barbara Mesquita, auch als E-Book erhältlich

Vorweg: Patrícia Melos knapp 160 Seiten starker Roman »Der Nachbar« ist kein Kriminalroman, auch wenn er als solcher gekennzeichnet ist. Vielmehr entwickelt sich hier auf höchst originelle Art und Weise eine Groteske, ein sarkastisches Stück, das als Psychogramm eines lärmempfindlichen, vom Leben enttäuschten und frustrierten Mannes, aber auch als eine Art Psychogramm der brasilianischen Gesellschaft gelesen werden kann. Die 1962 in São Paulo geborene Schriftstellerin Patrícia Melo, ausgezeichnet mit Literatur- und Krimipreisen, hat dieses schnelle, intelligente und unterhaltsame Buch 2017 geschrieben, auf Deutsch kam es 2018 heraus, übersetzt wurde es aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita.