
Dann also mal los. Es liegt noch manches ungelesen in den Regalen, aber jetzt soll es ans Ende gehen. Raabes vorletzter vollendeter Roman und vielleicht der wichtigste? An ›Die Akten des Vogelsangs‹ schrieb Raabe gut zwei Jahre. Er plagte sich. 1895 veröffentlicht gehört es natürlich zum Alterswerk und damit zu dem Abschnitt seines Schreibens, der uns heute mit Abstand am meisten interessiert. Während er an dem Buch schrieb, feierte er seinen 63-jährigen Geburtstag. Ich bin, während ich hier berichte, nur wenig älter und behaupte, dass es im doppelten Sinne ein Alterswerk ist. Wer schon ein wenig erlebt hat, wer noch in der Lage ist, in sich zu fühlen und Fragen zu stellen, wird von diesem Buch angefasst werden.
Die Katastrophe gleich zu Beginn: Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt erhält einen Brief von Helene Mungo, geborene Trotzendorff. Ihr gemeinsamer Freund Velten Andres ist tot. Die amerikanische Witwe Mungo saß an seinem Sterbebett in Berlin. Krumhardt ist erstaunt über die schöne, feste Handschrift, die so garnicht zu einem Weibe passe. Nicht nur der Erzähler Krumhardt ist ein Spießbürger durch und durch (hier würde jetzt ein Zwinkersmiley hingehören). Krumhardt hat seinem Vater alle Ehre und brav Karriere gemacht, doch der überraschende Brief der Witwe erschüttert ihn. Überstürzt fährt er nach Berlin. Sein Gedankengewirr lässt ihn nicht mehr los und so beginnt er mit dem Schreiben der Akten des Vogelsangs, dem Idyll der Vorstadt, in dem Karl, Velten und Helene groß geworden sind. Die Akten, das Erinnerungsprotokoll geraten ihm, Krumhardt zu einer schmerzhaften Selbstreflexion.
Er, das folgsame, fleißige Kind und junge Mann, den Vater als lebensgroßes Vorbild, dagegen Velten, der wilde, unruhige poetische Träumer, der trotz Anlagen nichts aus sich macht. Und Helene, das aus Amerika zugezogene, wehrhafte Mädchen, das sich Unabhängigkeit erträumt. Schließlich das Idyll, der Vogelsang, der längst zu einem Vorort mit Mietshäusern und Industrie geworden ist. Fluchtversuche und Lebenslügen, das Buch, möchte man meinen, könnte auch ›Verlorene Illusionen‹ heißen.
Nur in seltenen stillen Augenblicken gelangt wohl ein und der andere dazu, sich vor die Stirn zu schlagen: »Ja, wie ist denn das eigentlich? War das sonst nicht anders um dich her und in dir? Wie kommst du zu allem diesem, und gehörst du wirklich hierher, und ist das nun Ernst oder Spaß, was du jetzt hier treibst oder treiben mußt? Und wem zuliebe und zum Nutzen?«
Ich möchte nicht weiter aus dem Buch erzählen, es will gelesen werden (und wer es partout nicht aushält: Es gibt ja Wikipedia). Die Erzählung ist auf unzählige Art und Weise interpretiert worden, doch es kommt auch nicht darauf an, hier naseweis zu zitieren. Man lese es. Natürlich darf an dieser Stelle die übliche Raabe-Warnung nicht fehlen: Raabe ist nichts für Pageturner, denn die Lektüre fordert, um zum Vergnügen zu kommen, ein wenig Konzentration. Die Geschichte ist umständlich erzählt, strotzt von Zitaten und Subtext, ist ein Labyrinth. Ich hatte mir für diesmal vorgenommen, mich im (langsamen) Lesefluss nicht stören zu lassen und habe wirklich nichts nachgeschlagen: Keines der nicht allzu zahlreichen lateinischen und französischen Zitate und keines der mir nicht geläufigen Begriffe. Das hat wunderbar funktioniert.
Man könne sich auf verschiedene Art und Weisen im Geäst eines Baumes verklettern, erklärt an einer Stelle der Geschichte der Affenmensch vom Tivoli dem verblüfften Veltes, »aber reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig«. Wem bei diesem Zitat etwas anspringt, lese dieses Buch. Es ist großartig.
Ich habe das Buch in der ›Insel Taschenbuch‹ Ausgabe (221 Seiten) gelesen. Leider gibt es die zehnbändige Kassette in Antiquariaten kaum noch zu finden, die Einzelausgaben aber schon. Zur leichteren Suche hier die ISBN: 3-458-32588-3. Für die antiquarische Suche nutze ich die Suchmaschine Eurobuch. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass der ›Wallstein Verlag‹ jetzt auch Raabes ›Der Lar‹ herausgegeben hat. ›Bonaventura‹ hat über diese schöne Ausgabe einen lesenswerten Beitrag in seinem Blog.
Oach, schmoll! Und immnoch kee‘ Wildefuer? 🙁
Immerhin Raabe 🙂 (Um das mit den smileys mal zu probieren.)
Mich springt vor allem an: „Vogelsang“ und „Sperlingsgasse“ – das vermeintlich letzte Werk sollte wohl mit dem Erstling korrespondieren. Der alte mit dem jungen Raabe.
Ich habs als unansehnliches Reclamheftchen daliegen. Hm. Aber derzeit irgendwie nicht so richtig Lust drauf.
Andererseits sind die sprechenden Namen und das Kletterbaumzitat schon kleine Magneten…
Übrigens: Manch einer fragt sich in ruhigen Momenten im Alter: Wie komm ich hierher? Gehör ich hier hin?
Genauso heißt die gerade erschienene CD von Joan Armatrading! „How Did This Happen And What Does It Now Mean“ – alles hat mit allem zu tun. (Hat die Raabe gelesen?)
Jetzt schmollste, hast ja auch alles Recht dazu. Aber ich habe den Wildefuer gelesen. Doch, doch, bis Seite 29, wo es hieß »Die Hildesheimer waren ja von jeher baulustige, kunst- und farbenfrohe Leute gewesen. In früheren Zeiten hatten sie diesen Zug ihres Wesens an ihren Gotteshäusern betätigt, weswegen Hildesheim so viele prächtige und kunstvolle Kirchen und Kapellen aufzuweisen hatte wie kaum eine andere Stadt von gleicher Größe im ganzen Heiligen Römischen Reiche.« Und bei so etwas bin ich draußen und habe die Lust weiterzulesen verloren. Bitte verzeih mir. Bin ein Snob.
Oh ja, die Chronik und die Akten gehören zusammen, das habe ich auch gleich gedacht. Werde demnächst mal beide hintereinander lesen. Sein erstes und vorletztes Buch. Die Akten haben wirklich etwas mit mir gemacht.
1000 !! Dank !! für Deinen Tipp mit der Armatrading. Die war sehr wichtig in meiner Jugend und später habe ich sie aus den Ohren verloren. Das Album läuft grad und mir wird schon wieder ganz anders. Man wird so schrecklich sentimental mit den Jahren.
Liebe Grüße!
Wildefuer: Oweh, die Geschmäcker… Was ist denn an diesem Satz so furchtbar?
(Naja. Immerhin ein Hinweis. Danke.)
Wenigstens ziehen wir bei der Armatrading gleich. Und bei Grateful Dead. 🙂
Ne, gegen Grateful Dead gibt es ja nun wirklich nix zu sagen.
Bei dem Satz war ich mir nicht sicher, ob ich mich plötzlich bei den Hobbits oder bei Grzimek befand. Je nun, Geschmäcker … 😁
Huch? Meine Verwirrung steigt. Hobbits oder Grzimek? Ich würde sagen „beede juut!“ Allerdings war die Verfilmung des „Hobbits“ für den A….llerwertesten. Grzimek ist mein Held wegen Serengeti und wegen seines Kampfs gegen Massentierhaltung.
Aber immerhin: Tolkien ist für mich der mit den tiefsinnigen Plots, aber leider unlesbarer Schreibe, weil so kompliziert und voller mehr oder weniger unaussprechlicher und somit schwer merkbarer Örtlichkeiten – nu is‘ aber der Schreckenbach-Satz doch eher simpel. Hm. Hier wächst ein Gordischer Knoten heran…
Na, da geh ich wieder „Michael Meyenburg“ lesen. (Auch ein Schreckenbach; aber nicht die „Wildefuer“-Liga.) Lenkt auch so schön ab vom Zeitgeschehen und präsentiert doch Leute von heute in historischem Gewand.