Lit 1990-Heute

Ullstein 2017, 240 Seiten, übersetzt von Kirsten Brand, ISBN-13 9783550081606, auch als eBook erhältlich.

Wenn man will, kann man die zwölf Erzählungen, die mit dem verstörenden „Der schmutzige Junge” beginnen und dem titelgebenden, schier unerträglichen bedrückenden „Was wir im Feuer verloren” enden, als eine Sammlung von nahezu perfekt komponierten Horrorgeschichten ansehen. Es ist alles, was das Genre fordert, vorhanden: psychotische Menschen, grausame Geschehnisse, überraschende Wendungen und Schockmomente. Die Schlussakkorde der Geschichten sind fast immer stimmig, nichts was Liebhaber des Grauens vermissen werden. „Was wir im Feuer verloren” ist den Romanen und Erzählungen eines Lovecrafts, Borges oder McCarthys durchaus ebenbürtig. Doch Mariana Enriquez Band ragt über das Genre noch hinaus, bedient sich sozusagen der Schreckensgeschichten als Folie, um auch noch eine ganz andere Geschichte zu erzählen: Die von den verlorenen Generationen Argentiniens. Und sie erzählt modern, mit herausragendem sprachlichen Talent, Lob an dieser Stelle auch der Übersetzerin Kirsten Brand, und sie erzählt aus weiblicher Perspektive.

Europa Verlag 2017, 344 Seiten. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Auch als eBook erhältlich.

Wir sind im Nordwesten Schottlands, man schreibt das Jahr 1869, es ist August. In einem kleinen Bauerndorf werden auf brutale Art und Weise drei Mitglieder der Familie Lachlan Mackenzie, dem neuen Constabler des Dorfes, niedergemetzelt: Mackenzie selbst, seine Tochter und sein Sohn. Mörder ist der siebzehnjährige Roderick Macrae, Sohn eines verarmten Nachbars und Crofters, einem schottischen Kleinbauern. In Ordnung, dann wäre der Fall ja gelöst und niemand braucht das Buch mehr zur Hand zu nehmen. Mitnichten, denn in diesem Kriminalfall geht es um das Wie und Warum. In seinem zweiten Buch, das erste wird aufgrund des Erfolgs von „Der Fall Roderick Macrae” demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen, zeigt der schottische Autor Graeme Macrae Burnet, was im Genre Kriminalroman alles so geht. Vielschichtig, atmosphärisch, spannend und am Ende hat man sogar etwas gelernt.

Heyne Verlag 2016, ISBN 9783453317161, 592 Seiten, auch als eBook erhältlich.

Ich bin kein Science-Fiction Fan. Aber ich suche in der Sparte immer wieder mal nach einem Buch, das mich zu einem solchen Fan machen könnte. Phantastik mit mehr als Raumschiffen, viel Technik und klarem Gut und Böse. Einem Buch, das vielleicht mal den Hugo oder Galaxy Award gewonnen hätte, von prominenten Lesern wie Obama oder Zuckerberg empfohlen wird, einem Buch, das auch von einem chinesischen Schriftsteller stammen dürfte … einem Science-Fiction wie „Die drei Sonnen“ des gelernten Computertechnikers und vielfach ausgezeichneten Autors Liu Cixin. Es geht in diesem Roman um die chinesische Kulturrevolution und deren Folgen auf den Gemütszustand der Generationen, um Gewissen und Verantwortung, um Nano- und Astrophysik und ziemlich reale Aliens, die unserer Erde einen Besuch abstatten wollen. Könnte doch spannend werden, oder?

Diogenes 2013, 128 S., ISBN: 978-3-257-06846-7, auch als eBook erhältlich

Ich habe kein gutes Gedächtnis. Und so stand ich lange ratlos vor meinem überbordenden Bücherregal: Wie hieß der Autor noch, der mit dieser knappen, klaren Sprache und den merkwürdigen, geheimnisvollen Plots, von dem ich vor langer Zeit so beeindruckt war, den ich dann aber später aus den Augen verloren hatte? Schließlich stieß ich unter L auf die gesuchten Bücher: Der Autor heißt Hartmut Lange, ist Jahrgang 1937, arbeite Anfang der 1960er Jahre als Dramaturg in Ostberlin, verließ 1965 die DDR und lebt in Berlin. Er gehört zu den stillen Autoren dieses Landes, bekannt vor allem für seine klassisch durchkomponierten Novellen, aber auch Dramen, Romane und Essays gehören zu seinem Werk. Es wurde Zeit, daß ich meine Zuneigung wieder erneuerte. Und so griff ich zu dem relativ aktuellen Novellenband „Das Haus an der Dorotheenstrasse” von 2013.

Satyr Verlag 2013, 256 S., ISBN: 978-3944035031, auch als eBook erhältlich.

Zeit ist Luxus. Das ist keine leere Floskel, sondern entspringt realem Leben mit Leidenschaften und der Notwendigkeit eines Achtstundenarbeitstages. Es braucht also Auswahl und Konzentration. Was das Lesen betrifft, so helfen mir diverse Literatur-Blogs und Podcasts. Einer der von mir geschätzten Podcasts heißt Tsundoku (das ist japanisch und meint die Angewohnheit, gekaufte Bücher ungelesen in Regalen zu stapeln), wird von Andrea Diener betrieben und beschäftigt sich gut informiert und wunderbar unaufgeregt mit Büchern. In ihrer letzten Sendung stellte sie unter anderem Anselm Neft und seinen beiden Romanen „Hell” (2013) und „Vom Licht” (2016) vor. Das hatte nun Folgen.

Suhrkamp 2017, 624 Seiten, aus dem Italienischen von Karin Krieger, ISBN 978-3-518-42574-9, auch als eBook erhältlich.

Im zweiten Anlauf dann doch den ersten und im Anschluss auch den zweiten Band von Elena Ferrantes neapolitanischen Saga gelesen: mehr als 1000 Seiten dieses vielbesprochenen Bestsellers. Ich bin bei Halbzeit dieser Tetralogie einigermaßen geschafft und unschlüssig wie selten, was ich von diesem Romanprojekt halten soll. Ich habe mich meist sehr gut unterhalten gefühlt, war aber auch hin und wieder ein wenig genervt. Grund genug, um mich kurz über diese beiden Bücher zu äußern. 

Weidle Verlag, CulturBooks Verlag (eBook-Ausgabe), beide 2016, 160 Seiten, Übersetzung und Nachwort von Gregor Seferens, ISBN 978-3-938803-81-3, 978-3-9598-805-3

„Eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“, so kennzeichnete der Dichter Goethe eine Novelle. Joost Zwagermans „Duell” gehört zu dieser Gattung und erzählt von einem unerhörten Ereignis. Eine Novelle ist naturgemäß kurz, Spoilergefahr droht und deshalb sei nicht viel mehr als die Ausgangsposition und das folgende schockierende Vorkommnis verraten: Jelmer Verhoff, einst Galerist voller Idealismus, jetzt Leiter des Hollands Museums in Amsterdam, organisiert die letzte große Ausstellung vor der Schließung des Museums wegen umfassenden Renovierungsarbeiten. Diese letzte Ausstellung heißt „Duel”. Ausschließlich junge Künstler werden ihre Projekte in Kontrast zu den Bestandswerken der Kunstsammlung realisieren können. Eine der wenigen traditionell malenden Künstlerinnen ist die Kopistin Emma Duiker. Sie fertigt Repliken des um die 30 Millionen Euro teuren modernen Klassikers „Untitled No. 18” von Mark Rothko. Sie versteht den Prozess der Herstellung als eine Art Offenlegung der Künstlerseele des Malers. Soweit alles ganz harmlos und Kunst eben.

Hanser Verlag, 2016, 192 Seiten, ISBN 978-3-446-25359-9, auch als E-Book erhältlich.

Wenn man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarette und chirurgischen Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finstern Behausungen des Elends, wo es  sich vor den Blicken kalter Neugierde verkriecht, ihm öffnen und zum Schluß ihn in den Hungerturm des Ugolino blicken lassen wollte, so würde sicherlich auch er zuletzt einsehn, welcher Art … (diese beste aller Welten) ist. Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen als aus dieser unserer wirklichen Welt.

Arthur Schopenhauer schrieb diese Sätze Anfang des 19. Jahrhunderts und hat gut gesprochen. Heute geht das kürzer:

Die Welt ist voller Scheiße.

Luchterhand 2016, 640 S., ISBN: 978-3-630-87487-6, auch als E-Book erhältlich.

Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal einen Roman von Juli Zeh gelesen? Ich meine ausgelesen. Ich sehe in mein Bücherregal: Adler und Engel, 2001, ihr Debüt. Ich war so begeistert, daß ich mir sogar eine Widmung hatte einschreibenlassen. Danach konnte mich die Autorin mit ihren Veröffentlichungen nicht mehr so richtig begeistern. Vor wenigen Wochen also hörte ich eine Episode von DurchDieGegend, eines meiner Lieblingspodcasts, in dem der Journalist und Radiomacher Christian Möller mit Kulturschaffenden durch die Gegend geht und sie interviewt. In dieser Folge mit besagter Juli Zeh als Befragte. Ich kam ins Grübeln, ob ich ihr nicht mal wieder eine Chance geben sollte? Herr Möller persönlich stieß mich noch mal an … also gut, gekauft: Unterleuten, der aktuelle Roman von Juli Zeh.

Liebeskind Verlagsbuchhandlung, 2011, ISBN 9783935890854, 302 Seiten, auch als Ebook erhältlich.

Bestie Mensch. Auf knappe dreihundert Seiten eine Ansammlung von Brutalität, Tücke, Amoralität, Hinterlist und religiöser Perversität. Menschen am Abgrund und in Düsternis, den Schein von Zivilisation vortäuschend. Hauptsächlich in Virginia und Knockemstiff/Ohio spielt Ende der 1950er und während der 1960er Jahre dieser menschliche Irrsinn. Als puren Trash könnte man diesen Roman abtun, wäre da nicht noch einiges mehr, das dieses Buch auf eine Stufe mit Cormac McCarthys „Verlorene” stellt.