Lit 1990-Heute

VOM ENDE EINER GESCHICHTE
Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, ISBN 978-3-462-04433-1

Vorgestern habe ich den neuen und vielgerühmten Roman Vom Ende einer Geschichte von Julian Barnes zu Ende gelesen. Aufmerksam wurde ich auf das Buch, weil es in allen Kulturmedien besprochen wurde, schließlich erhielt Barnes für diesen Roman den Booker Price. Von Julian Barnes kannte ich bisher Flauberts Papagei und die Kavanagh Krimis.

Zum Inhalt des aktuellen Buches:
Tony Webster ist Rentner, hat eine erfolgreiche Berufskarriere und eine Ehe (gütliche Trennung) hinter sich. Er erinnert sich 40 Jahre zurück, an seine Schulzeit und an den Tag, als Finn Adrian seiner Clique beitrat. Er war der mit Abstand intelligenteste von den vieren. Sex und Bücher, das waren die Themen der Freunde, sie probierten sich als moderne Dandys und diskutierten philosophische Fragen. Einen Bruch gab es, als Finn Tony die Freundin ausspann. Später aber geschah ein noch viel tieferer Einschnitt: Finn Adrian nahm sich das Leben. Der Grund hierfür blieb im Dunkeln. So erinnert sich Webster an seine Schulzeit bis er eines Tages ein Teil des Tagebuches Finn Adrians erhält. Und seine Erinnerung erweist sich nun als durchaus trügerisch…

WER DAS SCHWEIGEN BRICHT
Pendragon Verlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-86532-231-9

Monatlich stellt Die Zeit die zehn besten Krimis vor. Und im August hat dieser 200 Seiten Roman den ersten Platz gemacht. Grund genug, einen Krimi zwischen zu schieben. Und um es gleich zu sagen: ich wurde nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil.

Darum geht’s: Robert Lubisch findet im Nachlaß seiner Vaters, zu dem er zeitlebens ein schwieriges     Verhältnis hatte, das Foto einer schönen Frau und den SS Ausweis eines ihm Unbekannten. Was hat das zu     bedeuten? Kratzer in der makellosen Vita seines Vaters? Vor allem diese Ahnung treibt Lubisch junior an,   dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Er entdeckt rasch, daß keine amouröse Liebelei dahinter steckt und beauftragt die zielstrebige Journalistin Rita Albers, der wiederum schnell klar wird, daß aus dieser Geschichte eine richtig große Story werden könnte. Doch dann ist sie tot …

Der Roman spielt am Niederrhein und in Mallorca, Ende der 1990er Jahren und während der Nazizeit. Die Figuren sind nicht sehr fein gezeichnet, aber das stört nicht, sondern läßt Platz für eine rasante und komplexe Handlung. Diese hätte man auch durchaus auf 300 Seiten oder mehr dehnen können, doch es ist ein Gewinn, daß Frau Borrmann dieses nicht getan hat. Man ahnt während des Lesens das ein oder andere und ist am Ende doch ein wenig überrascht. So soll es sein, und deshalb ist dieser Kriminalroman für mich eine unbedingte Empfehlung!

ROTER GLAMOUR
Ariadne Krimi, 245 Seiten, ISBN 978-3-86754-192-3

Man muß das mögen: Du liest und liest, atemlos, ohne wirklich zu verstehen, was hier vor sich geht, aber gefangen von der Handlung, den kurzen Sätzen, den Sätzen wie Regieanweisungen, wie Pistolenschüsse. Nie Überflüssiges, kein Geschwafel. Doch wer sich darauf einläßt, wird am Schluß reich belohnt: denn tatsächlich erst auf den letzten Seiten, da klären sich die Geschehnisse und die Details erschließen sich. So soll es sein, oder?

Die Handlung von Roter Glamour spielt im Politiker Milieu, die ganz große Politik, Polizeidienste, Waffenhandel sind das Thema, Prostitution und der unerträgliche Chauvinismus von Karrieremännern (was das angeht, so fühlt man sich permanent an einen recht aktuellen Fall erinnert). Dabei kommt der Roman nie Moralisch daher. Nein, man hat den Eindruck, die Geschehnisse seien direkt der politischen Wirklichkeit abgeschaut.

Kurzum: wie schon „Letzte Schicht“ ist „Roter Glamour“ ein Politthriller auf allerhöchstem Niveau. Bravo!

EINFACHE GEWITTER
Berlin Verlag, 448 Seiten, ISBN 978-3833307010

Der Inhalt sei aus dem Klappentext zitiert: “ … Von einer Sekunde auf die andere muss Adam Kindred, angesehener Klimatologe auf Durchreise in London, untertauchen. Jeder Weg zu seinem früheren Leben ist versperrt. Kontakt zur Familie nicht möglich, Kreditkarte und Mobiltelefon nicht zu benutzen, das Hotelzimmer außer Reichweite. Nur Stunden zuvor hatte er in einem kleinen italienischen Restaurant in Chelsea Philip Wang kennengelernt, Chef-Entwickler des Pharmakonzerns Calenture-Deutz.“

Mehr soll nicht verraten werden, außer dieses: Adam muß untertauchen und erlebt die Welt plötzlich aus völlig anderem Blickwinkel (von unten sozusagen). Schließlich gelingt es ihm, die Initiative zu ergreifen, und er ermittelt fortan selbst in seinem Fall. Und das Ende, das verrate ich jetzt doch, ist ein Happy End, das sich themsemäßig gewaschen hat.

Die Kritik war zum Teil überschwenglich, ein Thriller mit literarischem Anspruch hieß es, so schrieb zum Beispiel die geschätzte Iris Radisch in Die Zeit: „Ein literarischer Thriller – unglaublich raffiniert gemacht!“ Nun ja, ich weiß wirklich nicht, ob man dem folgen kann: Ich habe den Roman durchaus mit Interesse gelesen, auch wenn ich auf den immerhin 445 Seiten einige Längen zu überstehen hatte. Aber was mich wirklich geärget hat: Eher schwach gezeichnete, unglaubwürdige Figuren, Ungenauigkeiten in der Beschreibung des Pharma-Geschäfts und eine klischeehafte, irgendwie flach erzählte Geschichte. Nö, der Brecher war dieser Kriminalroman nicht, sorry!

LETZTE SCHICHT
Ariadne Krimi, 252 Seiten, ISBN 978-3867541886

Einiges spricht gegen den Kauf des Romans: Das unscheinbare Design des Umschlags (erinnert irgendwie an rororo aus den 1970ern), und dann das Genre: Letzte Schicht ist ein Wirtschaftskrimi (wers mag … mein Thema eigentlich nicht, denn ich verliere da jedesmal schnell den Überblick) und nimmt Bezug auf eine reale Affäre, die in den 1990er Jahren Schlagzeilen machte: den Kampf von Alcatel und Matra-Daewoo um den Kauf von Thomson, einer Lothringer Elektronikfabrik. Es geht um elende Arbeitsbedingungen, den Verstrickungen und Methoden der Hochfinanz und den Gesetzmäßigkeiten des entfesselten Kapitalismus. Folgerichtig werden am Anfang des Romans zwei  Links (s. unten) präsentiert, die diesen Hintergrund aus wirtschaftlicher Sicht verdeutlichen. Aber auch jede Menge Tempo, Brutalität, Spannung und Action haben in diesem Roman ihren Platz.

Dominique Manotti  ist eine Verehrerin von James Ellroy, und das merkt man: Sie kopiert aber diesen Stil nicht, sondern variiert ihn perfekt für ihr Thema. Knappe Sätze meist, kraftvoll, voller Saft, kein Wort zu viel. Das Lesen ist das reine Vergnügen, es zieht und treibt einen regelrecht weiter  in der rasanten Handlung. Und mit Rolande Lepitit erfindet sie eine lebensechte, mit Brüchen ausgestattete Hauptfigur, die den Leser von Anfang an fasziniert. Nun warte ich ungeduldig auf den neuen Roman von der Manotti, im März soll er kommen, noch nicht da, hoffentlich bald ….

Quelle 1: http://www.welt.de/print-welt/article643074/Paris_buendelt_Ruestungsindustrie.html

Quelle 2: http://www.monde-diplomatique.de/pm/1996/12/13/a0258.text.name,askkKiNLhS.n,30

DER KAISER VON CHINA
Dumont Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-8321-8074-4

Und wieder was mit 200 Seiten. Die Geschichte ist verzwickt: Keith Stapperpfennig wuchs beim Großvater auf. Zusammen mit vier Geschwister und diversen, immer jünger werdenden Großmüttern. In die letzte Großmutter verliebt sich Keith. Zu Großvaters Achtzigsten bekommt dieser von seinen Enkeln eine Reise nach China geschenkt. Allein: begleiten will ihn keiner, es bleibt am Schluß an Keith hängen. Dieser allerdings verjubelt die Reisekosten, muß den Großvater allein reisen lassen und erfährt bald darauf, daß dieser im Westerwald gestorben sei. Nun muß der Held für die Geschwister eine Geschichte erfinden, damit diese glauben, daß die Reise nach China stattgefunden hat.
Soweit der Plot. Der Roman ist geschrieben nach der Art eines Münchhausens: Voller Fantasie und Skurrilität. Dabei immer amüsant und wunderbar unterhaltend. Vieles in der Geschichte erkennt man wieder, vor allem, wenn die Familienverhältnisse beschrieben werden. Man lacht lauthals, und ab und an schluckt man auch. Unterhaltung auf sehr hohem Niveau.