Juli Zeh: Unterleuten
Luchterhand 2016, 640 S., ISBN: 978-3-630-87487-6, auch als E-Book erhältlich.
Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal einen Roman von Juli Zeh gelesen? Ich meine ausgelesen. Ich sehe in mein Bücherregal: Adler und Engel, 2001, ihr Debüt. Ich war so begeistert, daß ich mir sogar eine Widmung hatte einschreibenlassen. Danach konnte mich die Autorin mit ihren Veröffentlichungen nicht mehr so richtig begeistern. Vor wenigen Wochen also hörte ich eine Episode von DurchDieGegend, eines meiner Lieblingspodcasts, in dem der Journalist und Radiomacher Christian Möller mit Kulturschaffenden durch die Gegend geht und sie interviewt. In dieser Folge mit besagter Juli Zeh als Befragte. Ich kam ins Grübeln, ob ich ihr nicht mal wieder eine Chance geben sollte? Herr Möller persönlich stieß mich noch mal an … also gut, gekauft: Unterleuten, der aktuelle Roman von Juli Zeh.

Ich krame in meinem Gedächtnis: Wann habe ich das letzte Mal einen Erzählband bis zum Ende ausgelesen? Ich glaube, das tat ich noch nie. Bis auf dieses eine Mal. Fünfzehn Geschichten des Neuseeländers Carl Nixon. Alle spielen in Neuseeland, könnten aber auch an jedem anderen Ort spielen. Nicht selten geht es um Vater-Sohn-Beziehungen (man kann ja durchaus auch mal über den Tellerrand hinausschauen), ansonsten zeigen sich die Erzählungen sehr abwechslungsreich, auch was Stil und Erzählperspektive angeht. Da geht es um eine jäh beendete Idylle und einen bedauernswerten Papagei, um das kurze Glück eines Obsthändlers, um eine eigenartige Verführung, die fotografische Idee eines Vaters, die Wut von Pensionären oder die Routine eines Treffens von Vater und Sohn, die plötzlich keine mehr ist. Man ist etwa in der Hälfte der Sammlung angekommen und trifft auf die titelgebende Erzählung „Fish ‘n‘ Chip Shop Song”: langweiliger Automatismus, eingefangen in einem Refrain mit einem Schuss Romantik, ein geniales Stück. Im zweiten Teil taucht dann plötzlich eine Person auf, die man bereits zu kennen meint. Man wischt zurück, ach ja stimmt, dann liest man weiter.
Was eine seltsame Geschichte, was ein merkwürdiges Buch, das mich nach der Lektüre ein wenig ratlos und fasziniert zurückläßt. Eine Erzählung von nicht enden wollenden Martyrien, romantischer Liebe und unbändiger Freiheitsliebe, Phantasie und geschichtlichem Hintergrund und einer seltsamen Symbiose zwischen Autor und seinem Übersetzer. Ich fange der Reihe nach an.
Diesen kleinen Roman einzuordnen, fällt nicht leicht. Und vielleicht sollte man das auch einfach lassen, denn es ist ein Gewinn, dass man diese Geschichte in vielen Lesarten genießen kann: Ende des neunzehnten Jahrhunderts schreit während eines Spazierganges Mrs. Silvia Tebrick, geborene Fox, auf und als ihr Ehemann Mr. Tebrick sich ihr zu wendet, sieht er statt seiner Gattin einen Fuchs, genauer gesagt eine Fähe, die einst seine Frau war. Mit fast stoischer Ruhe und Gelassenheit nimmt er dieses Mysterium an und führt fortan mit seiner Frau der Fähe das Eheleben so gewohnt wie möglich weiter. Er kündigt dem Hauspersonal, beziehungsweise schickt es für unbestimmte Zeit in den Urlaub, um einen Skandal zu vermeiden. Das Problem: Die sich an ihr früheres Leben erinnernde Füchsin verwildert zusehens. Ihr einstiges Menschsein verschwindet nach und nach aus ihrem Fähenbewußtsein. Wer sich nun an Kafkas „Die Verwandlung” erinnert fühlt, liegt nicht so falsch. Mit einer großen Gelassenheit wird auch hier die plötzliche Verwandlung zur Kenntnis genommen, auch hier spielen psychologische Vorgänge eine wichtige Rolle, aber die Kälte der Familie in Kafkas Erzählung weicht in Garnetts kurzem Roman der unerschütterlichen Liebe des Ehemanns. Der Roman weißt einige überraschende Wendung auf, hat rührende Szenen und ein berückendes Ende. Es darf hier nicht zu viel verraten werden.
Dieses sei vorweggenommen: Das Buch gibt es (bis dato) ausschließlich als eBook bei CulturBook. Inzwischen hat das Haus angekündigt, dass ein oder andere Buch auch drucken zu wollen. Allerdings ist der Verlag ein Spezialist für elektronische Bücher (und mein persönlicher Lieblingsverlag für eBooks). Wegen der unschlagbaren Ästhetik der Buchcover und der interessanten Auswahl von Autoren und Autorinnen lohnt sich unbedingt ein Blick auf das Sortiment. Geführt wird CulturBook von Jan Karsten und der bekannten Autorin Zoë Beck.
Im November 1941 waren es nur wenige Trauerende, die dem Begräbnis der Schauspieler Joachim und Meta Gottschalk und ihrem achtjährigen Sohn Michael beiwohnten. Von den ehemaligen Kollegen und Kolleginnen waren es unter anderem Brigitte Horney, Gustav Knuth und Elisabeth Lennartz, Hans Brausewetter, Werner Hinz, Wolfgang Liebeneiner und Ruth Hellberg. Wenige Tage zuvor hatte die Familie die Nachricht erreicht, daß die Ehefrau Meta Gottschalk, geborene Wolff, zusammen mit ihrem Sohn deportiert werden sollte. Der von den Behörden geforderten Trennung von der jüdischen Ehefrau hatte sich Joachim Gottschalk, ein damals sehr bekannter Schauspieler der UFA, stets widersetzt. Die Familie sah keinen anderen Ausweg als den gemeinschaftlichen Suizid.
Fragt man mich nach meinen Lieblingsbüchern, so nenne ich neben anderen auch gern „Das Herz ist ein einsamer Jäger (The heart is a lonely hunter)“ von Carson McCullers. Ich verschenke das Buch sehr oft, selbst gelesen habe ich es vor vielen, vielen Jahren. Als ich vor wenigen Wochen das Buch wieder einmal als Geschenk verpackt habe, kamen mir die Idee und auch die große Lust, es erneut zur Hand zu nehmen. Es ist bekanntlich immer eine spannende Angelegenheit, ein geliebtes Buch nach langer Zeit wieder zu lesen. Enttäuschung, neue Perspektiven, Déjà-vu-Erlebnisse, Bewußtwerdung der eigenen Entwicklung … vieles ist möglich und so war ich sehr gespannt.
Kriegsende vor siebzig Jahren, da war es auch an mir, eine zum Ereignis passende Neuerscheinung zu lesen. Fast neu, denn „Alles Licht, das wir nicht sehe“ erschien bereits 2014 als deutsche Übersetzung. Inzwischen gibt es viele positive Besprechungen hierzulande und Anthony Doerr hat für den Roman den Pulitzerpreis 2015 in der Sparte Belletristik erhalten.