Gabriele Tergit: Effingers
Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt am Main 2019, 900 Seiten, ISBN 9783895614934

Wer sich für Literatur interessiert und die einschlägigen Sendungen und Feuilletons zum Thema verfolgt, dem wird nicht entgangen sein, dass es in diesem Jahr eine bemerkenswerte Wiederentdeckung zu bejubeln gab. Dem jüdischen Leben in Berlin, das die Nazis ausgelöscht haben, würde ein Denkmal gesetzt werden, wir hätten hier die jüdische Buddenbrooks zu feiern, usw., usw. Der 1951 erschiene Riesenroman der 1894 in Berlin geborenen und 1982 in London gestorbenen Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit, die für ihre Gerichtsreportagen bekannt war, wurde dieses Jahr regelrecht abgefeiert. »Effingers« ist ein Panorama der besseren Gesellschaft in Berlin über 4 Generation, von 1878 bis zum Holocaust, in 151 Szenen. Gabriele Tergit schrieb an diesem Werk und zum Teil unter großen Schwierigkeiten von 1933 bis 1950. Zeit ihres Lebens blieb der Erfolg aus, jetzt scheint er da zu sein. Auch ich habe die 900 Seiten gelesen und bin beeindruckt.







Sehr jung, ohne Kenntnisse im Französischen und mit schmaler Geldbörse bin ich vor über 40 Jahren Richtung Paris getrampt. Irgendwo vor Reims wurde ich von einer Polizeimannschaft aufgehalten. Ich versuchte die Konversation auf Englisch, denn Deutsch in Frankreich zu sprechen schien mir zu gewagt. Das tut man nicht, Geschichte und so. Ich bekam Schwierigkeiten, denn ein Deutsch sprechender Polizist legte meinen hilflosen Versuch als Betrug aus: Warum tun Sie so, als wären sie Engländer? Die Sache ging gut aus und ich traf später in einer Jugendherberge in Paris eine junge Frau, die jüdischer Abstammung war. Ich weiß nicht mehr, woher sie kam, aber wir konnten uns auf Englisch unterhalten. Sie war der erste jüdische Mensch, mit dem ich bewusst sprach. Beklemmung, Schamgefühl, Neugier und wieder die Geschichte. Zwei Episoden meiner frühen Jahre, die sich mir ins Gedächtnis spülten, als ich »Heimat« von Nora Krug las und betrachtete. Und dann ist da noch die Ahnenforschung, die mich auf der Suche nach Heimaten viele Jahre intensiv beschäftigt hat und die ich heute noch sporadisch betreibe. Kurzum: »Heimat«, in dem sich die Illustratorin und Autorin Nora Krug auf Spurensuche nach dem Leben ihrer Familie während der Nazizeit begibt, hatte bei mir ein komplettes Heimspiel. Und dieses Heimspiel wurde zu einem Leseerlebnis, das ich so schnell nicht vergessen werde.
Nein, das Wetter in Westfalen ist nicht gut in diesen Jahren zwischen 1817 und 1821. 1815 war der Tambora, ein Vulkan östlich von Java gelegen, mit seit Menschengedenken nie erreichter Gewalt ausgebrochen und hatte weltweite Klimaänderungen zur Folge. In endlosen Regentagen entstand Mary Shelleys »Frankenstein« und William Turner brachte die ungewöhnlichsten Farbphänomene auf die Leinwand. Für die einfachen Leute galt es, Missernten zu überstehen. Man aß, soweit vorhanden, das eigene Saatgut oder Pferdefleisch. Der Adel beklagte sich indessen über die vielen Hungerleider überall. Und dann die Verkehrswege in Westfalen, der schlimmsten Gegend Europas, wie englische Reiseschriftsteller zu berichten wissen. Solche Zustände machten Kutschfahrten zur Tortur. Hier also wächst die 1897 viel zu früh geborene Annette, genannt Nette, auf. Kränklich ein Leben lang aufgrund der verfrühten Geburt, extrem kurzsichtig und frech wie Oskar. Sie gehört zum Stamm der Familien von Droste-Hülshoff und von Haxthausen, beides altwestfälischer katholischer Adel. Ein privilegiertes Leben also. Doch das Fräulein Nette hat zwei Probleme: Sie hat Talent und sie ist eine Frau. Und schon sind wir mittendrin in dem 2018 erschienen und fast 600 Seiten starken Roman von Karen Duve.
Mein Verhältnis zu den Büchern Thomas Manns ist nicht ganz ungestört. Auf der einen Seite die endlosen Ausdeutungen des Krankheit-Genie Themas, die großbildungsbürgerliche Attitüde und das blasierte »Wo ich bin, ist Deutschland«. Dagegen diese ungeheure Stilsicherheit, Beobachtungsgabe und feine Ironie. Ich mag die Erzählungen wie »Der kleine Herr Friedemann« oder den »Tristan«, bei dem sich mir etwas unwiderstehlich Wohliges-Unheimliches einstellt, wenn er von Will Quadflieg oder Gert Westphal vorgelesen wird. Bei meinem ersten Versuch, den »Doktor Faustus« zu lesen, bin ich krachend gescheitert und habe den »Zauberberg« mehrmals versucht und genau so oft abgebrochen: Kann mir nicht helfen, zu künstlich das Setting, zu langweilig die Dialoge. Allerdings ein ganz und gar persönliches Urteil, dem viele LeserInnen gewiss zu recht laut widersprechen werden. »Joseph und seine Brüder« schließlich ist eine Romantetralogie, die recht weit oben auf meinem Leseplan steht. Und dann die »Buddenbrooks«, Thomas Manns erste Roman von 1901. Ich liebe diesen Roman. Wie sehr, ist mir in den letzten Tagen wieder bewusst geworden, als ich mir dieses Meisterstück das dritte Mal in meinem Leseleben vorgenommen habe.