Lit Frauen

Büchergilde Gutenberg 2019, Die Tollen Hefte – Band 46, Original-Flachdruck mit vier Sonderfarben und einer Beilage (Text der Kurzgeschichte), Fadenknotenheftung mit Schutzumschlag, limitierte Auflage, 32 Seiten. Leseprobe hier (Link auf externe Seite).

»Blade Runner«, »Minority Report«, »Total Recall« … auch NichtleserInnen kennen den Science Fiction Autoren Philip K. Dick, der 1928 in Chicago geboren wurde. Er war ein Meister von SF-Kurzgeschichten, von denen später nicht wenige zu Filmklassikern wurden. Es gibt Menschen, die halten seine Werke für ein »Kompendium der angewandten Philosophie« (so steht es auf dem Buchdeckel meiner fünfbändigen Haffmannausgabe der Kurzgeschichten). Von der Berliner Illustratorin Katia Fouquet mag man vielleicht ihre gefeierten Comic Adaption von Camus »Jonas oder der Künstler bei der Arbeit« von 2013 kennen. In diesem  eben bei der Büchergilde Gutenberg erschienenen Heft bringt sie auf 32 farbenfrohen Seiten (es knallt förmlich ins Auge) die 23-seitige Kurzgeschichte »Ach, als Bobbel hat man’s schwer« von Philip K. Dick ins Bild, wobei sie eng am Original bleibt. Und manchmal schafft sie sogar wunderbare Übergänge, wo sie Philip K. Dick nicht fand: Zum Bespiel gegen Schluss, als Vivian mit ihren Kindern auf der Suche nach ihrem Mann bei Dr. Jones vorstellig wird und während des Gesprächs die Kinder in den Nachrichten des laufenden Fernsehers ihren Vater sehen. Spätestens jetzt stellt sich die Frage, um was es in dieser Kurzgeschichte eigentlich geht.

Herausgegeben von Susanne Fischer. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag 2018, 215 Seiten, ISBN: 978-3-518-80420-9

Alice Schmidt war eine Dichter-Ehefrau. Ihr Name ist eng mit dem ihres Ehemanns Arno Schmidt, diesem Solitär der deutschen Nachkriegsliteratur, verbunden. Das Paar heiratete 1937 in Lauban und lebte bis zum Ende des Krieges in Greiffenberg in Schlesien. Nach dem Krieg wohnten die Schmidts bis 1950 in Cordingen (ein Heidekaff, vom späteren Bargfeld nicht zu weit entfernt) in einer Flüchtlingsunterkunft. Ein Zimmer, wenig zu Essen, kaum Einkommen, unsichere Zukunft und stets vor Augen, eine Dichterexistenz führen zu müssen. Zwischen 2004 und 2011 wurden von Susanne Fischer (Literaturwissenschaftlerin, im Vorstand der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld) die Tagebücher 1954, 1955 und 1956 herausgegeben, letztes Jahr die Tagebücher 1948/49. Diese frühen Tagebücher Alice Schmidts dokumentieren den Beginn der Schriftstellerkarriere von Arno Schmidt und sind deshalb für die Leserschaft seiner Bücher von großem Interesse. Sie zeigen den unerschütterlichen Glauben Alice Schmidt an das schriftstellerische Genie ihres Ehemanns, aber zeugen auch davon, dass eine Anbetung des Gatten als Person nicht stattfand. 

Matthes & Seitz, Berlin 2019, 90 Seiten, ISBN: 978-3-95757-716-0, auch als E-Book erhältlich.

LeserInnen meines Blogs wissen: Ich höre Podcasts, vor allem solche, die über Literatur sprechen. Oder aber welche, die außergewöhnliche, interessante Interviews zu Gehör bringen. »Durch die Gegend« mit Host Christian Möller habe ich vor nicht allzu langer Zeit hier vorgestellt. Herr Möller macht aber auch noch andere Sachen. Zum Beispiel stellt er als einer von mehreren ModeratorInnen Bücher zu bestimmten Themen in der WDR3 Sendung »Gutenbergs Welt« vor. Mitte April hieß das Thema »Im Tierreich« und eines der besprochenen Bücher hieß »Löwenbaby« von Christina Wessely. Ein schmales Bändchen, das eine Art kleine Kulturgeschichte der Menschen-mit-Löwenbabys Fotografie darstellt. »Wer schreibt denn über so etwas? Braucht es das auch noch?«, möchte man da ausrufen. Nun, die in Wien geborene Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Christina Wessely hatte mein Interesse mit diesem Buch sofort geweckt. Und das hat einen Grund.

Penguin Verlag 2018, 280 Seiten, durchgehend vierfarbig illustriert, handgeschrieben und -gestaltet, ISBN: 978-3-328-60005-3

Sehr jung, ohne Kenntnisse im Französischen und mit schmaler Geldbörse bin ich vor über 40 Jahren Richtung Paris getrampt. Irgendwo vor Reims wurde ich von einer Polizeimannschaft aufgehalten. Ich versuchte die Konversation auf Englisch, denn Deutsch in Frankreich zu sprechen schien mir zu gewagt. Das tut man nicht, Geschichte und so. Ich bekam Schwierigkeiten, denn ein Deutsch sprechender Polizist legte meinen hilflosen Versuch als Betrug aus: Warum tun Sie so, als wären sie Engländer? Die Sache ging gut aus und ich traf später in einer Jugendherberge in Paris eine junge Frau, die jüdischer Abstammung war. Ich weiß nicht mehr, woher sie kam, aber wir konnten uns auf Englisch unterhalten. Sie war der erste jüdische Mensch, mit dem ich bewusst sprach. Beklemmung, Schamgefühl, Neugier und wieder die Geschichte. Zwei Episoden meiner frühen Jahre, die sich mir ins Gedächtnis spülten, als ich »Heimat« von Nora Krug las und betrachtete. Und dann ist da noch die Ahnenforschung, die mich auf der Suche nach Heimaten viele Jahre intensiv beschäftigt hat und die ich heute noch sporadisch betreibe. Kurzum: »Heimat«, in dem sich die Illustratorin und Autorin Nora Krug auf Spurensuche nach dem Leben ihrer Familie während der Nazizeit begibt, hatte bei mir ein komplettes Heimspiel. Und dieses Heimspiel wurde zu einem Leseerlebnis, das ich so schnell nicht vergessen werde.

Galiani Verlag Berlin 2018, ISBN 9783869711386, 592 Seiten auch als E-Book erhältlich.

Nein, das Wetter in Westfalen ist nicht gut in diesen Jahren zwischen 1817 und 1821. 1815 war der Tambora, ein Vulkan östlich von Java gelegen, mit seit Menschengedenken nie erreichter Gewalt ausgebrochen und hatte weltweite Klimaänderungen zur Folge. In endlosen Regentagen entstand Mary Shelleys »Frankenstein« und William Turner brachte die ungewöhnlichsten Farbphänomene auf die Leinwand. Für die einfachen Leute galt es, Missernten zu überstehen. Man aß, soweit vorhanden, das eigene Saatgut oder Pferdefleisch. Der Adel beklagte sich indessen über die vielen Hungerleider überall. Und dann die Verkehrswege in Westfalen, der schlimmsten Gegend Europas, wie englische Reiseschriftsteller zu berichten wissen. Solche Zustände machten Kutschfahrten zur Tortur. Hier also wächst die 1897 viel zu früh geborene Annette, genannt Nette, auf. Kränklich ein Leben lang aufgrund der verfrühten Geburt, extrem kurzsichtig und frech wie Oskar. Sie gehört zum Stamm der Familien von Droste-Hülshoff und von Haxthausen, beides altwestfälischer katholischer Adel. Ein privilegiertes Leben also. Doch das Fräulein Nette hat zwei Probleme: Sie hat Talent und sie ist eine Frau. Und schon sind wir mittendrin in dem 2018 erschienen und fast 600 Seiten starken Roman von Karen Duve.

Verlag interna, Bonn 2017, 55 Seiten, ISBN 978-3-945778-45-6

Eine kurze Novelle in einer eher Broschüre denn Buch gedruckt, Umschlag in Blau und Schwarz auf weißem Hintergrund gehalten, ein Hochzeitsbild auf einem Nachtisch oder Kommode, darunter ein Zitat von Oskar Maria Graf:

Nichts in diesen Blättern ist erfunden, beschönigt oder zugunsten einer Tendenz niedergeschrieben.

In seiner Reihe ”Fünf.Zwei.Vier.Neun.” (die 5249 Tage der Weimarer Republik) möchte der Verlag Interna Werken vergessener Autoren und Autorinnen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen neue Leser und Leserinnen zuführen. Es gibt viel zu entdecken, denn die Talente, die durch ihr schreckliches Ende im Konzentrationslager oder durch Flucht oder andere Umstände aus dem literarischen Gedächtnis unserer Republik entschwanden, sind von großer Zahl. Mala Laaser gehört zu diesen Talenten und auch wenn ihr das Schicksal einer Carry Brachvogel erspart blieb, so verstummte sie doch in der Emigration in England. Die vorliegende Novelle wurde in einer Zeitschrift des Central Verbands deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens veröffentlicht und liegt jetzt, um die 85 Jahre später das erste Mal als Buch vor.

Brandstätter Verlag 2017, 216 S., ISBN: 978-3-7106-0090-6, auch als eBook erhältlich.

1998, mit ihrer Rolle als Mephistopheles in Goethes Faust machte Adele Neuhauser sich für das Theater liebende Regensburg unsterblich. Mein liebstes Stück war zwei Jahre später „Meisterklasse”, ein Stück über die ihre Schüler terrorisierende und in eigenen Erinnerungen gefangene Maria Callas. Ich höre noch heute mein verängstigtes Herz in der fünfzehnten Reihe klopfen. Großartig. Nach ihrem Engagement in Regensburg hob Adelele Neuhausers Karriere ab und heute ist sie aus der deutschsprachigen Fernsehlandschaft nicht mehr wegzudenken. Spätestens nach den ersten Folgen des Austria-Tatorts ist klar: Adele Neuhauser hat es geschafft. Daß so eine Karriere nicht immer nur glatt und reibungslos verläuft, liegt auf der Hand. In ihrem autobiographischen Buch „Ich war mein größter Feind” nimmt Adele Neuhauser Leser und Leserinnen mit in ihre Familiengeschichte und erzählt von ihren wichtigsten Lebensabschnitten. Und weil es eben Adele ist, die das tut, habe ich tatsächlich das erste Mal in meinem Leben die Autobiographie einer lebenden Person des öffentlichen Lebens gelesen. 

Hofenberg Digital 2016, 100 Seiten (i. d. Hardcover-Ausgabe), Erstdruck 1911, auch eine kartonierte und eine gebundene Ausgabe sind erhältlich.

Die 1864 geborene Carry (Caroline) Brachvogel war Tochter der vermögenden Münchner Kaufmannsfamilie Hellmann. Ihre Liebe zur Literatur entwickelte sich früh, allerdings veröffentlichte sie ihr erstes Schauspiel „Vergangenheit” erst 1894, ein Jahr darauf „Alltagsmensch”, ihren ersten Roman. Nach dem frühen Unfalltod ihres Ehemanns 1892 war Carry Brachvogel alleinerziehende Mutter zweier Kinder und überhaupt kein Alltagsmensch. Sie war Frauenrechtlerin und gründete eine Organisation für schreibende Frauen. Überhaupt waren ihre gesellschaftspolitischen Ansichten nicht allein für ihre Zeit erstaunlich modern. Die Münchnerin wurde schließlich in den 1920er Jahren weit über die bayerischen Landesgrenzen hinaus bekannt. Sie schrieb Romane, Novellen, Biografien und Feuilletons. Ab 1933 geriet sie als Jüdin ins Visier der Nationalsozialisten. 1942 wurde diese großartige Frau und Schriftstellerin in Thersienstadt umgebracht. Und sie verschwand damit auch aus den literarischen Köpfen ihres Heimatlandes.

Suhrkamp 2017, 324 Seiten, ISBN: 978-3-518-46775-6, auch als eBook erhältlich.

London, vielleicht bald. Diese Zeile ist dem neuen Roman von Zoë Beck vorangestellt. Und ich bin ehrlich: Anfangs fand ich diese Zeile ein wenig arm. Vielleicht? Bald? Was soll das heißen? Aber diese Worte passen hervorragend und man kommt während und nach der Lektüre immer wieder auf diese Zeile zurück. Vielleicht schon ganz nah? Denn der Thriller spielt, so scheint es, fast in der Gegenwart. Brexit, die aufstrebende Rechte, Spaltung der Gesellschaft, blanker Rassismus (wir denken heute an den Grenfell Tower) und eine durch und durch korrumpierte Drogenpolitik. Das sind die wichtigsten Themen dieses Buches. Ein ganz starker zeitkritischer Krimi von Zoë Beck, der ohne Belehrung auskommt, dafür aber viel Spannung bietet. Und so ganz nebenbei gesellschaftliche Probleme ausspricht, für die es keine einfachen Lösungen gibt.

Ullstein 2017, 240 Seiten, übersetzt von Kirsten Brand, ISBN-13 9783550081606, auch als eBook erhältlich.

Wenn man will, kann man die zwölf Erzählungen, die mit dem verstörenden „Der schmutzige Junge” beginnen und dem titelgebenden, schier unerträglichen bedrückenden „Was wir im Feuer verloren” enden, als eine Sammlung von nahezu perfekt komponierten Horrorgeschichten ansehen. Es ist alles, was das Genre fordert, vorhanden: psychotische Menschen, grausame Geschehnisse, überraschende Wendungen und Schockmomente. Die Schlussakkorde der Geschichten sind fast immer stimmig, nichts was Liebhaber des Grauens vermissen werden. „Was wir im Feuer verloren” ist den Romanen und Erzählungen eines Lovecrafts, Borges oder McCarthys durchaus ebenbürtig. Doch Mariana Enriquez Band ragt über das Genre noch hinaus, bedient sich sozusagen der Schreckensgeschichten als Folie, um auch noch eine ganz andere Geschichte zu erzählen: Die von den verlorenen Generationen Argentiniens. Und sie erzählt modern, mit herausragendem sprachlichen Talent, Lob an dieser Stelle auch der Übersetzerin Kirsten Brand, und sie erzählt aus weiblicher Perspektive.