Berenberg 2020, S. 168, ISBN 978-3-946334-76-7, auch als E-Book erhältlich.
Wer sagt eigentlich, dass in diesem Blog grundsätzlich nur Bücher, die aus der Mode sind, besprochen werden? Wilhelm-Raabe-Preisträgerin 2020, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020: Viel aktueller geht es nicht. Die Rede ist von Christine Wunnicke und ihrem in diesem Jahr erschienen wunderlich-kleinen Roman »Die Dame mit der bemalten Hand«. Frau Wunnnickes »Masche« ist es, tatsächliche Personen der Zeitgeschichte in tatsächlich existierende Orte zu senden, um diese in erfundenem Drumherum zu verwickeln. Auf diese Weise entsteht ein Spiel mit Historie und Möglichkeit, mit Fakten und fantastischer Komödie. So hat die Autorin es in »Katie«, so hat sie es in »Der Fuchs und Dr. Shimamura« gemacht. Das hier vorgestellte, wunderbar aufgemachte Buch (Extralob dem Berenberg Verlag) hat 168 Seiten und die darin erzählte Begegnung zweier Männer der Wissenschaft ist in 12 Kapitel unterteilt.
Das Schauspiel beginnt mit der ersten Hauptperson: Wir treffen auf Musa al-Lahuri in Panvel, Westindien. Nach westlicher Schreibweise befinden wir uns im Jahre des Herrn 1764. Musa verkauft Astrolabien, Instrumente zur Sternenpositionierung. Musa stammt ursprünglich aus Persien, wohnt in Jaipur und will eigentlich nach Mekka, doch auf dem Weg dorthin kann man ja noch ein paar Geschäfte abwickeln. Motorboote gibt es noch nicht, unser Held ist auf den Wind angewiesen, und so kann es eben passieren, dass er ungewollt auf Elephanta landet. In unseren Tagen gehört diese Insel mit ihren historischen Höhlen und Statuen zur Verehrung Shivas zum Unesco Kulturerbe. 1764 ein unwirtlicher Ort mit Ziegen, lästigen Affen, gefährlichen Schlangen und diesen Höhlen mit ihren merkwürdigen Skulpturen. Musa landet also dort mit seinem Gehilfen Malik und hofft, recht bald auf ein Schiff zur Weiterfahrt zu treffen.
Hier kommt der Niedersachse Carsten Niebuhr ins Spiel. Vollkommen unvorbereitet war er mit einer Handvoll Wissenschaftler von Göttingen aus aufgebrochen, um im Orient nach Gottesbeweisen zu suchen. Ihm ist sehr bewusst, dass er eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Niebuhr ist Mathematiker und als die Mitreisenden nacheinander an Typhus sterben, ist er völlig ratlos, wie er seinen Forschungsauftrag noch einigermaßen erfüllen soll. Als Musa dann auf Niebuhr trifft, liegt dieser vor einer Skulptur in Ohnmacht und ist dem Tod näher als dem Leben. Wie in Tausend und eine Nacht erzählt Musa Niebuhr Geschichten, bereitet ihm Essen und erweckt auf diese Weise die Lebensgeister dieses Fremdlings. Niebuhr kann leidlich Arabisch (er ist zum Glück recht sprachbegabt) und so ist eine Verständigung, wenn auch unter urkomischen Schwierigkeiten und Missverständnissen, möglich. Ost trifft hier auf West, auf für beide fremden Terrain. Beim Blick in den Himmel: Hier das Sternbild der Dame-mit-der-bemalten-Hand, dort Kassiopeia. Es geht in dieser Geschichte viel über Verstehen, Nichtverstehen, Gewissheiten und Perspektiven und das Erzählte wird uns Leserinnen und Lesern in einem hochkomischen und raffiniert arrangierten Rahmen präsentiert. Von irgendeiner Überlegenheit einer Kultur ist nichts zu erfahren, eher von einem reizvollen, sprichwörtlich babylonischen Durcheinander. Das Lesen dieser absurden Geschichte ist ein großer Spaß und lädt zur langsamen oder wiederholten Lektüre ein, um ja keine Pointe zu verpassen.
Am Ende des Romans taucht die Kolonialmacht in Person der Engländer auf und befreit die Helden aus ihrer Lage. Der historische Mathematiker Carsten Niebuhr wird als Kartograf und Forschungsreisender sehr berühmt werden. In seinem Bericht über Arabien wird ein Musa nirgends erwähnt. Aber den hat ja die Autorin Christine Wunnicke erfunden. »Die Dame mit der bemalten Hand« von Christine Wunnicke ist ein kleiner, ungemein kunstvoll inszenierter Roman und ein hinreißendes Stück über Kulturen, Sprache, über Forschungsreisende und eingebildete Wissenschaft. Amüsant, sehr unterhaltsam und zum Nachdenken anregend. Leserherz, was willst Du mehr.