Robert Walser: Jakob von Gunten

Suhrkamp 2022, Berner Ausgabe — Band 7, Broschur, 183 S., ISBN: 978-3-518-43066-8

Dieser dritte Roman Robert Walsers (nach ›Geschwister Tanner‹ und ›Der Gehülfe‹) ist in Berlin entstanden, dort 1909 erschienen und handelt auch, da ist jetzt neu, in Berlin. Gilt ›Der Gehülfe‹ als Walsers erfolgreichster Roman, so zählt ›Jakob von Gunten‹ als sein künstlerisch ambitioniertester. Erzählt wird in Form eines Tagebuches (allerdings ohne Datumseinträge) der Aufenthalt des aus adligem Elternhaus stammenden Jakob von Gunten in einer Schule für kommende Diener. Tatsächlich hatte Robert Walser in seiner Berliner Zeit für eine kurze Zeit eine solche Lehranstalt besucht. Am Ende der 132 Seiten des Romans wird diese Schule, das Institut Benjamenta, nicht mehr existieren.

Beginne ich also mit der Handlung: Jakob von Gunten betritt aus freien Stücken das Erziehungsinstitut Benjamenta. Der angsteinflößende Vorsteher Benjamenta und seine Schwester Lisa Benjamenta leiten das Haus. Jakob charakterisiert das Haus gleich im ersten Satz wie folgt:

»Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, d. h., wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.«

(S. 9 in dieser Ausgabe)

Jakob will sich frei machen von seiner reichen Familie, will als Diener von ganz unten anfangen.

»Schade, ich sollte nicht Eltern haben, die mich lieben. Ich mag überhaupt nicht geliebt und begehrt sein. Sie sollen sich daran gewöhnen, keinen Sohn mehr zu haben.«

(S. 21 in dieser Ausgabe)

Allerdings bleibt ein Rest an rebellischen Wesen, an dem der Held fortwährend arbeitet. Der Alltag ist geprägt durch das Zusammenleben mit etwa ein halbes Dutzend Mitschüler (wir werden ihnen der Reihe nach vorgestellt) und ein rätselhaftes Verhältnis von Guntens zu Fräulein Benjamenta und auch zu dem Vorsteher. Das Lehrpersonal erscheint komplett unmotiviert, gelehrt wird außer Gehorsam und Demut nichts. Nachmittags haben die Knaben frei. An einen dieser freien Tage kommt es in Berlin zur Begegnung Jakobs mit seinem Bruder Johann, der sich auskennt in der großen Berliner Welt. Weitere Treffen folgen. Jakob stellt hierzu resigniert fest:

»Vielleicht sind wir heutigen Menschen alle so etwas wie Sklaven, beherrscht von einem ärgerlichen, peitscheschwingenden, unfeinen Weltgedanken«

(S. 65 in dieser Ausgabe)

Inzwischen verlassen die Schüler einer nach dem anderen das Institut, um irgendwo eine Stellung zu beginnen. Als das Fräulein stirbt, halten Herr Benjamenta, Kraus und Jakob die Totenwache. Dann wird auch Kraus, der letzte noch anwesende Mitschüler Jakobs, gehen. Der Vorsteher gesteht, durchaus mehrdeutig, Jakob seine Zuneigung zu ihm und will diesen überreden, gemeinsam mit ihm in die Welt zu gehen. Nach anfänglicher Abwehr willigt schließlich Jakob von Gunten per Handschlag ein. Beide gehen in die richtige Welt auf der Suche nach Abenteuern.

Selbst für schmale 130 Seiten Text ist das nicht eben viel Handlung. Nach Walsers eigenen Bekunden handelt es sich bei diesem Text um eine dichterische Phantasie. Die Tagebucheinträge (es sind derer etwa siebzig) sind oft wie gehetzt notiert, überbordende Gedankenfülle, dabei immer Situationen und Begriffe reflektierend. Um den Stil zu beschreiben, möchte man vielleicht in einem ersten Affekt Kafka zitieren, würde es damit aber nicht treffen. Oft ist Jakob am Ende eines Eintrags regelrecht erschöpft:

»Ich muß aufhören, heute, mit Schreiben. Es reißt mich zu sehr hin. Ich verwildere. Und die Buchstaben flimmern und tanzen mir vor den Augen.«

(S. 69 in dieser Ausgabe)

Natürlich ist der Text auch als eine Parabel auf das Ende des Wilhelminischen Zeitalters mit seiner Untertanmentalität zu lesen. Viele Lesarten sind möglich. Der Roman fand in der Rezeption anfangs wenig Beifall: Ein Mosaik, öde, die homosexuellen Anspielungen wurden scharf missbilligt. Leser wie Kafka und Hesse lobten hingegen den Text sehr: Seine Sprachreflexion und die Kunst, eine unverwechselbare Atmosphäre zu schaffen.

So, Butter bei die Fische: Wie ging es nun mir? Ich hatte tatsächlich so meine Schwierigkeiten mit dem Text. Auf der einen Seite war und bin ich begeistert von der Sprache. Das bin ich bei Robert Walser eigentlich immer, hier ganz besonders. Ich hätte Zeile um Zeile zitieren mögen. Auf der anderen Seite sind diese hin- und mitreißenden Reflexion kaum einmal unterbrochen, damit ich als Lesende Luft holen kann: Es geht so dahin, immer weiter. Und so ging mir irgendwann der Faden verloren und mir wurde es dann schwer, Konzentration und Genuss zu halten. Fast war ich ein wenig genervt über dieses Zuviel. Kurzum: Ein Text, der mich zwiegespalten und ein wenig ratlos zurücklässt.


Ich will es an dieser Stelle nicht versäumen,
Lesern und Leserinnen meines Blogs herzlich für ihre Besuche zu danken.
Euch allen wünsche ich einen guten Rutsch,
ein gutes und gesundes neue Jahr
und überhaupt:
Eine gute Zeit!

6 Kommentare on "Robert Walser: Jakob von Gunten"


  1. mE hat Walser nie wirklich einen gelungenen Roman vorgelegt, ihm fehlt da einfach der Fokus auf Handlung, während er zugleich diese sprachliche Konzentration seiner Kurztexte nicht aufrecht erhält. Das längste wirklich gelungene von ihm dürfte der Spaziergang sein.

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    1. Ja, Der Spaziergang ist gewiß gelungen und auch dem Gehülfen konnte ich etwas abgewinnen. Aber hier war ich ratlos. Du wirst mit deiner Einschätzung Recht recht haben.

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  2. Liebe Lena,
    alle drei von dir angeführten Bücher habe ich vor einigen Jahren der Reihe nach aufmerksam gelesen. Ich gebe zu, dass es für mich nicht so leicht war, in die pathetisch-feinfühlige Gedankenwelt und die besondere Sprache Robert Walsers einzutauchen. „Geschwister Tanner“ war von den dreien mein Favorit.

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    1. Kann ich sehr gut verstehen, liebe Rosie. Er war bei seinen ersten beiden Romanen dann doch noch eher konventionell. Ich mag seine Gedankenwelt schon sehr. Aber dann eher in der kleinen Form, so wie schon Sören kommentierte.
      Liebe Grüsse!

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  3. Nachdem ich anfangs der 1970er Jahre die grandiose Verfilmung Peter Lilienthals des Jakob von Gunten begeistert gesehen hatte, habe ich den Roman danach nie gelesen.

    MMn sollte man bei Robert Walser seiner Gemütszustände gegenwärtig sein. Er war sicherlich ein Grenzgänger gewesen und das spürt man seinem Schreiben auch an.

    Bei youtube findet sich für Interessierte die zweiteilige Dokumentation: „Robert Walser Carl Seelig – Der Vormund und sein Dichter“

    Ich bin auf Deine weiteren literarischen Vorstellungen gespannt und wünsche Dir ein freudvolles und gesundes 2024er Jahr

    Schöne Grüsse
    Robert

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