Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte

Meine Ausgabe: Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1985, 227 S., ISBN: 3-458-32587-5. Antiquarisch noch gut zu bekommen.

Stopfkuchen also. Stopfkuchen gehört zum Spätwerk Wilhelm Raabes und ist 1891 erstmals erschienen. Es ist sein bestes Werk (nach eigener und der Meinung vieler) und wohl sein bekanntestes Buch. Zumindest gilt das heutzutage, denn zu Raabes Zeit waren die frühen ›Der Hungerpastor‹ und ›Die Chronik der Sperlingsgasse‹ berühmter. Heute wissen wir vor allem sein Spätwerk zu schätzen. Die »kurz=&=gutn 200=Seiter«, wie Arno Schmidt sie einst nannte. Dieser Roman ist trotz des Untertitels weder ein Seeabenteuer, noch eine erste deutsche Kriminalgeschichte, auch ist Stopfkuchen keine Hommage an Arthur Schopenhauer, wie Rüdiger Safransiki noch behauptete. Drei Lektüren habe ich gebraucht, um zu erfassen, dass dieser Text viele Böden hat, irreführend und von großer Kunstfertigkeit ist.

Was wird erzählt auf den 220 Seiten? Wir befinden uns zu Beginn auf einem Schiff. Eduard, seinen Nachnamen erfahren wir nicht, befindet sich auf der Rückreise nach Südafrika, wo er es zu einigem Wohlstand gebracht hat (merke: Kolonialzeit). Er war auf Besuch in seiner Heimatstadt und muss nun die Geschehnisse wie ein Getriebener aufschreiben. Eduard ist also der Erzähler, wir lesen den Text, den er im Bauch des Schiffes verfasst hat. Dieses Getriebensein hat seine Ursache in den Geschehnissen um den Landbriefträger Störzer und der Roten Schanze auf der Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen und seine Frau Valentine, geborene Quakatz, sitzen. Man kann, wenn man will, die Rote Schanze, die im Siebenjährigen Krieg zum Beschuss des Städtchens gedient hatte, identifizieren: Die Weiße Schanze (es gibt ein Gemälde von ihr) bei Wolfenbüttel war Vorbild. In Wolfenbüttel ist Raabe aufgewachsen.

Beginnen wir mit Störzer, der in seinem Dienst als Landbriefträger wohl fünfmal die Erde umrundet hat. Er ist Eduards väterliche Freund, der ihn mit seiner Leidenschaft zur Geographie und zu Le Vaillants Beschreibung seiner afrikanischen Expedition infiziert und so einen Keim zu Eduards weiteren Lebenslauf gesetzt hat. Doch dieser kann ihn nicht mehr besuchen, da Störzer direkt vor Eduards Ankunft gestorben ist. Allerdings fand die Beerdigung noch nicht statt.

Nun beeilt sich der Erzähler, seinen ehemaligen Schulfreund Stopfkuchen aufzusuchen. Heinrich Schaumann wurde in seiner Kindheit und Jugend ob seiner Leibesfülle gehänselt und gemobt, wie wir heute sagen würden. Und er hatte eine Obsession: Er wollte auf die Rote Schanze. Auf dieser hausten der Bauer Quakatz, der von den Bürgern der Stadt des Mordes an dem Viehhändler Kienbaum beschuldigt wurde, und dessen wilde, verängstigte Tochter Valentine. Ferner gab es dort unzuverlässiges Dienstpersonal und scharfe Hunde. Quakatz war frustriert von den massiven, nicht enden wollenden Anschuldigungen und reagierte mit Gewaltausbrüchen auch und grad gegen seine Tochter Valentine. Tatsächlich gelang es Stopfkuchen, auf die Schanze zu kommen, indem er dem Bauern von Nutzen war, und er gewann das Vertrauen der Tochter Valentine. Er eroberte also die Schanze und heiratete Valentine und wurde nach dem Tod des alten Quakatz zum Herrn. Nur wenn es unbedingt nötig ist, verlässt Schaumann alias Stopfkuchen das Anwesen. Er treibt nebenher historische Forschungen und gräbt nach prähistorischen Knochen. Diese ganze Geschichte erzählt Stopfkuchen Eduard bei dessen Besuch. Er schweift bei seiner Rede immer wieder ab, wiederholt sich, zieht in die Länge und lässt schließlich durchblicken, dass er den Mörder Kienbaums kennt. Man könnte geradezu sagen, er foltert Valentine, Eduard und uns Leser und Leserinnen mit seinem nicht enden wollenden Redefluss.

Der Roman endet damit, dass Stopfkuchen mit Eduard und ohne seine Frau(!) in die Stadt geht und das Geheimnis im Gasthaus vor Zeugen offenbart. Der Mörder ist Störzer, der Landbriefträger. Dieser hatte es Schaumann gebeichtet, Zeugen gibt es dafür nicht. Der Mord stellt sich als ein Totschlag im Affekt heraus: Störzer wurde von Kienbaum jahrelang gedemütigt und jener hatte nicht vor diesen zu töten. Diese öffentliche Darlegung der Geschehnisse, beschämt nicht nur die Spießbürger der Stadt, sondern gibt die Schande an die Familie Störzers weiter just in dem Moment, an dem dieser beerdigt wird. Daraufhin reist der tief betroffene Eduard überstürzt ab. Es gibt ein letztes Bild, als er im Zugwaggon sitzend einen letzten Blick auf die Schanze wirft, vor der Schaumann und seine Frau Valentine sitzen. Eine Idylle, die trügerischer nicht sein könnte. Auf der anschließenden Passage zurück nach Südafrika beginnt Eduard seine Aufzeichnungen.

Liest man diese 220 Seiten sorgfältig oder zum wiederholten Mal, dann fallen einem zwangsläufig die doppelte Rahmenhandlung (Eduard erzählt, Stopfkuchen erzählt und auch Valentine) und zumindest einige der verschiedenen Aspekte der Erzählungen ins Auge. Es sind ganz offensichtlich die Setzung des in die Welt gehenden Eduards und den in seiner Kiste bleibenden Stopfkuchens. Die Entblößung des Philistertums in einer Kleinstadt, die den unangenehmen Bauern Quakatz über Jahre mit Prozessen überzieht. Und was ist mit Schaumann? Ist er ein Deut besser? Wie er mit seiner Frau umspringt, wie er scheinbar mit Wonne die Schande an die Familie Störzers zum schmerzlichsten Zeitpunkt weitergibt. Und dann frage ich mich: Wie kann der Erzähler den Redeschwall Schaumanns so genau und detailreich wiedergeben? Der Realismus der Geschichte wird hier auffällig gebrochen. Und Valentine Quakatz? Was für eine Rolle spielt sie? Starke Frauen sind bei Raabe bekanntlich eher selten, aber sie agiert in dem Roman durchaus differenziert und ist sich ihrer Situation bewusst: Von dem gewalttätigen Vater zum dominanten und gefräßigen Ehemann, der ihr gleichzeitig Schutz bietet. Fragen über Fragen nach der Lektüre eines schlicht großartigen Romans.

Ich habe das Buch in meiner Insel Taschenbuchausgabe gelesen, die es noch antiquarisch zu kaufen gibt. Es gibt auch eine Reclam-Ausgabe und viele andere.

2 Kommentare on "Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte"


  1. Der Hofer wars vom zwanzger Haus, der schautma so vadächtig aus. Der Hofer hoad an Anfall krieagt und hat die Leich doa massakriert…“

    Hm. Heute mal nachgesehen, hier im Blog: Und prompt eine Raabe-Rezi. Na, doa schau her!
    Den „Stopfkuchen“ kenn‘ ich nicht. Also günstig, diese Rezi zu finden. Viel los ist da ja gerade nicht, so scheint es.

    Ja, der Raabe und die Philister. Der Witz an sich: Er schreibt für Philister, die sich nicht dafür halten. Denn um keiner zu sein, müsste man so autistisch wie Raabe selbst sein und leben – und ob das so erstrebenswert ist?

    Schau’mer mal, wann ich über eine Ausgabe stolpere…

    „Andorra“ von Max Frisch fällt mir da auch noch ein. Vorverurteilung und Lynchjustiz an einem Unschuldigen.

    S bleibt halt immer alles ziemlich ähnlich …

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert