Anne Berest: Die Postkarte

Berlin Verlag 2023, 544 S., ISBN: 3827014646, aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, auch als E-Book erhältlich.

Die Pariserin Anne Brest ist Schauspielerin, Herausgeberin und Regisseurin. 2010 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Ein großer Erfolg wurde ›How to be a Parisian‹, ein Buch, das sie als Co-Autorin verfasste. 2017 ein Buch über ihre Urgroßmutter, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Claire schrieb: ›Ein Leben für die Avantgarde – Die Geschichte von Gabriële Buffet-Picabia‹. Mit ›Die Postkarte‹ 2021 dann ein Riesenerfolg: Bestsellerliste, Preise, hymnische Besprechung und nur sehr wenige kritische Stimmen. Ein Buch aus jener Kategorie also, die mich eher wenig interessiert. Hier eine Ausnahme, denn das Buch war ein Geschenk und hat mich nicht nur wegen des Themas in Atem gehalten.

Der Roman gehört eher der Erinnerungsprosa an, und hier speziell der Erinnerung an Familiengeschichte in der Shoa. Gleichzeitig geht es um Spurensuche mittels der Reportage, aber auch frei erfundene romanhafte Passagen haben ihren Platz. Dann wieder Absätze, die ihre Quellen aus dem Geschichtsunterricht oder anderen Romanen über den Holocaust zu speisen scheinen. Es ist zuweilen eine recht wilde Mischung. Die Prosa selbst wird auch wenig geübten Leserinnen und Leser vor keine großen Schwierigkeiten stellen.

Um was geht es? Die Erzählerin Anne, die mit der Autorin weitgehend übereinstimmt, hakt bei der Mutter, Lélia Berest, wegen einer Postkarte nach, die diese im Januar 2003 bei der Neujahrspost fand. Eine Karte adressiert an M. Bouveris, dem verstorbenen Stiefvater Lélias. Darauf in krakeliger Handschrift die Namen Ephraim und Emma, die die Eltern der inzwischen verstorbenen Myriam waren. Myriam ist die Mutter von Lélia und die einzige die Nazizeit überlebende Nachkommin der aus Russland stammenden Familie Rabinovitch. Neben Ephraim und Emma auch die Namen von Myriams Geschwistern Noémi und Jaques, die ebenfalls von den Nazis ermordet wurden. Diese Karte gibt Rätsel auf und ist ein wenig unheimlich. Lélia erzählt nun ihrer Tochter Anne die Geschichte der Familie Rabinovitch. Eine kaum religiöse jüdische Familie, der Vater ein Ingenieur, die Mutter eine Musikerin, die Kinder in ihrem Bereich begabt, reisen von Riga nach Palästina und nach Frankreich ins Exil. Sie treffen damit eine dramatisch falsche Entscheidung. Einzig Myriam flüchtet (mit Hans Arp im Kofferraum eines Autos) und wird sich der Résistance anschließen und so überleben. Falsche und richtige Entscheidungen, es sind letztlich Zufälle, die über Leben und Tod entscheiden.

Wir haben an dieser Stelle, mit dem Tod der Familie in den Gaskammern in Auschwitz, etwas mehr als 200 Seiten, knapp die Hälfte des Romans, der keiner ist, gelesen. An dieser Stelle hätte ich die Lektüre fast abgebrochen. Die bescheidene literarische Qualität, die präsente Erzählerin mit ihrer kettenrauchenden Mutter, die sehr persönlichen Geschichten inmitten der Erzählung der Vorfahren, die die denkbar größte existentielle Katastrophe erlebten. Die zwangsläufig konstruierten Begebenheiten hierbei, fast bis in die Gaskammer hinein. Ist das in Ordnung so? Kann man das so machen? Ein ungutes Gefühl, aber ich las weiter.

Was in der Handlung des Buches folgt, ist eine Intensivierung der Nachforschung 15 Jahre später, nachdem die Tochter der Erzählerin antisemitisch angefeindet wurde. Überhaupt gelingt es Anne Berest sehr gut, den Bogen vom Holocaust zu den alltäglichen Diskriminierungen heute zu spannen. Auch das Bemühen, sich als Jüdin möglichst unsichtbar zu machen. Heute — die Aktualität ist nicht zu übersehen. Wir folgen in der Recherche jetzt immer deutlicher Myriams Spuren. Es gibt viel Personal in diesem Buch, aber es gelingt, einigermaßen die Übersicht zu behalten. Und natürlich gibt es tragische Bilder, die der Autorin auch eindruckvoll gelingen, als auch humorvolle und komische Szenen. Und am Ende gibt es, was die seltsame Post angeht, eine Auflösung, die es in sich hat. Man kann ›Die Karte‹ als ein Frauenbuch lesen, als eines dass in der Zeit, in der von den Zeitzeugen fast niemand mehr da ist, den heute Lebenden zeigt, was die Shoa bedeutet. Vor allem aber macht es uns deutlich, wie gegenwärtig die antijüdischen Ressentiments mitten im aufgeklärten Europa ihr Unheil treiben.

So gesehen mag dieses Buch zwar kein großer literarischer Wurf sein, aber durchaus seine Notwendigkeit haben. Der Blick hat sich geändert. Vielleicht greifen Leser und Leserinnen danach zu Gabriele Tergits ›Effingers‹. Das wäre doch was?

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