Suhrkamp 2022, 80 Seiten, ISBN 978-3-518-22539-4. Übersetzt von Sonja Finck.
So kann es gehen: Du gehst in einen Buchladen, willst ein Buch in Augenschein nehmen, das dir dann aber nicht gefällt, doch so ganz ohne Fang willst auch nicht wieder raus. Ich hatte mich schon für eine illustrierte Undine Ausgabe entschieden, als ich die Buchhändlerin fragte: »Sag mal den Literaturnobelpreis boykottiert ihr, oder?« – »Neiiiiin!«, es sei eben nur alles weg, für die lokalen Buchhandlungen nix mehr zu kriegen. Aber zwei Bänden der aktuellen Veröffentlichung wären noch da, bei der Kasse. Und so nehme ich ein Bändchen mit nach Hause und lese mein erstes Ernaux-Buch. Sogar gleich zweimal hintereinander, am Abend und am Morgen danach, denn allzu umfangreich ist ›Das andere Mädchen‹ nicht. Ich hatte schon so oft von der Ernaux gehört, aber noch nie etwas gelesen. Nun denn …. jetzt aber los.
Frau Ernaux beschreibt sich als eine Ethnologin ihrer selbst. Alle ihre Veröffentlichungen handeln von einschneidenden Ereignissen in ihrem Leben, stets ist ihr Schreiben autobiographisch. Ein Leitthema dabei ist der Weg der Autorin vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin. (Und wer will, mag in Wikipedia o. ä. noch viel mehr lesen, über ihr politisches Engagement, ihr Klassenbewußtsein und über Antisemitismusvorwürfe.)
In ›Das andere Mädchen‹ handelt es sich um einen Brief, den die Autorin, inzwischen siebzigjährig, an ihre tote Schwester schreibt, also in erster Linie an sich selbst. Wir sind in der französischen und selbstredend katholischen Provinz, in der Normandie: Durch einen Zufall erfährt das Kind, das Annie 1950 ist, dass sie eine Schwester hatte, die zweieinhalb Jahre vor Annies Geburt sechsjährig an Diphtherie verstarb. Es gibt ein paar alte Fotos, unter anderem das ihres Vaters mit einer Nichte und davor stehend, mit eigenwilliger Handhaltung ihre Schwester. Verblasst ziert dieses Bild den Schutzumschlag des Buchcovers. Verblasst wie die Erinnerungen, denn in der Familie wurde im Beisein des Mädchens über diese Schwester nicht gesprochen. Wie es hieß, um das zweite Kind nicht zu belasten. Die Autorin sucht sich Jahrzehnte später schreibend einen Weg zu dieser Schwester und zu der Bedeutung, die diese Schwester für die Schreibende hatte und eventuell bis heute hat. Dies geschieht auf 66 Buchseiten keineswegs verkopft oder verkrampft. Der Stil von Annie Ernaux hat die Kraft, mich mit auf diese Reise zu nehmen. Literarisch ist das alles richtig gut und ein Lob geht hier auch an die Übersetzerin Sonja Finck. Ob mich das wirklich etwas angeht, weiß ich allerdings noch nicht so genau.
Denn auch am Ende der zweiten Lektüre frage ich mich immer noch, ob ich eine tolle Neuentdeckung (neu aus meiner ganz persönlichen Sicht) gemacht habe oder ob ich es bei diesem einen Buch belassen sollte. Ich bin noch unentschieden, aber rate jedem, etwas von Annie Arnaux zu probieren. Man wird aber wohl bis November warten oder mit einem E-Book vorliebnehmen müssen, denn momentan ist aus bestimmten Gründen alles weg.
Da hast Du aber eine echte Perle gefunden;)
LG
Lucia
Bitte Werke von Annie Ernaux weiter lesen. Du schreibst: »Ob mich das wirklich etwas angeht, weiß ich allerdings noch nicht so genau.« Ich habe »Die Jahre« gelesen, rezensiert und festgestellt, das geht mich etwas an. Vielleicht machst du die gleiche Erfahrung.
Nachzulesen: »altmodisch:lesen« , Kategorie »weibliches Schreiben«
Herzliche Grüße
Margret
So ist es auch geplant. Mindestens ein Buch der Ernaux liegt noch auf dem (allerdings sehr hohen) Stapel.
Herzlichst,
Lena