Author: lenariess

Rowohlt 2019, 1264 S., ISBN: 978-3-498-04537-1, übersetzt von Melanie Walz.

Da lese ich also ein 1200-seitiges Buch, Zeile für Zeile, nur um am Ende das Gefühl zu haben, es sofort noch einmal von vorne lesen zu müssen, um noch mehr in diesem Roman zu entdecken. Ach, wäre ich nur eine gewissenhafte Leserin mit genügend Zeit und Muße. So bleibt es vorerst bei dieser ersten Lektüre, voller Staunen, Bewunderung und Freude an diesem Roman. George Eliot hieß eigentlich Mary Ann Evans, wurde 1819 in der Nähe von Coventry geboren und verstarb 1880 in London. Ihr bemerkenswertestes Werk »Middlemarch« erschien zuerst in Fortsetzung 1870 bis 1871. Es war ihr vorletzter Roman und es gab noch mehrere durchgesehene Ausgaben zu ihren Lebzeiten. In Deutschland hatte das Buch bisher nicht den Erfolg wie z. B. die Bücher von Jane Austen oder Charles Dickens. Ein Grund hierfür war wohl die Schwierigkeit, die spezielle Eliotsche Ironie angemessen ins Deutsche zu übertragen. Zum Glück nahm sich Melanie Walz dieser Herausforderung an und seit letztem Jahr haben wir ein »Middelmarch« vorliegen, dass es den der englischen Sprache nicht (ausreichend) Kundigen den ungetrübten Genuss dieses wunderbaren Buches ermöglicht. 

PalmArtPress 2020, 350 S., ISBN: 978-3-96258-050-6

Ein Wenderoman, ein Berlinroman, ein Künstlerroman, über 45 Jahre nach Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« – eine Menge Zuschreibungen von Verlag und Autor. Ich lasse das erst einmal alles weg und beginne mit dem Lesen. Frederic Wianka hat also mit »Die Wende im Leben des jungen W.« sein Debüt gegeben. Vom Verlag erfahren wir, dass der Autor in Potsdam und Schwerin aufgewachsen ist und, nicht ohne Ironie vermerkt, ihm am 9. November 1989 der Ausreiseantrag genehmigt wurde. (Diese Daten verraten uns, dass er ein paar Dinge mit dem Helden seines Romans gemeinsam hat.) Dann erste Lesungen 2009, ein Literaturpreis 2010, 2020 »Die Wende im Leben des jungen W.«. Genug vom Autor, legen wir also los mit dem Buch.

Insel Verlag 2020, 346 S., ISBN: 978-3-458-17848-4, auch als E-Book erhältlich.

Ursula Naumann ist Schriftstellerin und Germanisten. Der Verlag gibt auf seiner Webseite bekannt, dass die Autorin Frau Naumann heuer ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. Herzlichen Glückwunsch! Ich bin auf Ursula Naumann und ihre Biographie »El Caballero Gustavo Bergenroth. Wie ein preußischer Forscher in Spanien Geschichte schrieb« durch einen Literaturpodcast, genauer durch »Gutenbergs Welt« vom WDR gekommen: Walter von Rossum unterhält sich mit der Autorin über einen Juristen aus Ostpreußen, Jahrgang 1813, der über abenteuerlichste Wege ins spanische Simancas gelangte, um dort historische Dokumente aus der Tudorzeit zu entschlüsseln. Kein Mensch hierzulande kennt Gustav Bergenroth. Der renommierte Historiker Geoffrey Parker benennt Bergenroths Arbeiten in seiner 2019 erschienen und gefeierten Biographie »Emperor. A new life of Charles V« als außerordentlich wichtige Quellen. Wer um alles in der Welt war also dieser Bergenroth? Warum ist er so vergessen? Meine Neugierde war geweckt.

Fischer 2009, 896 S., ISBN: 978-3-596-90209-5, auch als E-Book erhältlich.

Da war einiges los in meinen 10er Jahren: 1969 die Mondlandung, 70 die WM in Mexiko und 1971 schließlich »Die Frau in Weiß«, ein Fernsehdreiteiler, der die bundesrepublikanischen Straßen leerräumte, ein Straßenfeger eben. Schaut man sich auf Youtube diese Verfilmung des Wilkie-Collins-Klassikers an, so mag dieses Fernsehstück heutzutage nicht mehr recht zünden. Und der Roman? Die Wiederentdeckung dieses Schauerromans aus der viktorianischen Zeitepoche darf sich zu großen Teilen Arno Schmidt auf die Fahnen schreiben. 1962 übersetze er die rund 800 Seiten und nach anfänglichen Bedenken seitens des Verlags wegen des Umfangs kam »Die Frau in Weiß« ungekürzt und in der Übertragung von Arno Schmidt 1965 auf den Markt. Das Buch wurde ein Bestseller (wie auch das englische Original bei seiner Erstveröffentlichung 1860) und, wenn man so will, Arno Schmidts erfolgreichstes Buch. Und heute? Ich habe (leider) ein recht schlechtes Gedächtnis und so kannte ich den Plot dieses Klassikers nur noch schemenhaft. Gute Voraussetzung aber, um die Probe aufs Exempel zu probieren: Funktioniert »Die Frau in Weiß« auch heute noch?

DVB Verlag 2020, 380 S., ISBN: 3903244031

Maria Lazar wurde 1895 in Wien in eine großbürgerliche, jüdische Familie, die früh zum Katholizismus konvertiert war, hineingeboren. Schon 1920 veröffentlichte Maria Lazar ihren ersten Roman »Die Vergiftung«, eine Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft. Es folgten Bühnenstücke und der bis dato nur in einer gekürzten englischen Exil-Ausgabe existierende Roman »Leben verboten!« und schließlich 1937 »Die Eingeborenen von Maria Blut«. Diese drei Romane sind lediglich ein Ausschnitt des Schaffens der Autorin und wurden in den letzten Jahren im österreichischen DVB-Verlag neu aufgelegt. DVB bedeutet »Das vergessene Buch« und passender könnte für Maria Lazar, die aufgrund einer unheilbaren Erkrankung 1948 in Stockholm sich das Leben nahm, dieses Motto nicht sein. Heuer veröffentlichte der Verlag mit seinem Verleger Albert C. Eibl »Leben verboten!« – das erste Mal in seiner Originalfassung von 1932.

S.Fischer 1981, 302 S., ISBN: 978-3-10-048221-1, auch als TB und E-Book erhältlich.

1951, ein Jahr vor seiner Rückkehr aus seinem einstigen Exil in den USA in die Schweiz, veröffentlichte Thomas Mann seinen kürzesten Roman »Der Erwählte«. Insgesamt 3 Jahre schrieb er an diesem Werk, danach sollten bis zu seinem Tod 1955 an Bedeutenden noch der unvollendete Felix Krull und die Erzählung »Die Betrogene« folgen. Der Stoff für »Der Erwählte«, der schon im »Doktor Faustus« eine Rolle spielte, stammte aus dem Epos »Gregorius« des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue. Dessen Quellen reichten noch weiter in der Zeit zurück. Es handelt sich um eine christliche Legende: Kindheit und Jugend des Papstes Gregor I. (540-604). Mann erzählt dieses Vers-Epos aus und bringt es aus dem Mythischen ins Psychologische. In der Tat geht es hier um heikle Themen: Inzest, Hochmut, Reue, Sühne, Vergebung. Urchristlicher Stoff, den Thomas Mann hier zu einem kleinen Juwel von Roman verarbeitet hat.

Argument mit Ariadne 2019, geb. Ausgabe, 352 S., aus dem Amerikanischen von Daisy Dunkel, ISBN: 978-3-86754-239-5
CulturBooks 2019, E-Book, ISBN: 978-3-95988-142-5 

Googelt man nach deutschsprachigen Ausgaben von Büchern der amerikanischen Schriftstellerin Tawni O’Dell, werden zwei Ausgaben desselben Buches angezeigt: »Wenn Engel brennen« bei Ariadne und eine lizenzierte E-Book-Ausgabe bei CulturBooks. Aufmerksamen amerikanischen Lesern und Leserinnen wird O’Dell spätestens seit ihrem Erfolg von »Back Roads« ein Begriff sein, zumal dieses Buch prominent verfilmt wurde. »Wenn Engel brennen« ist O’Dells sechstes Buch und ihr erster Krimi. Er führt uns in den Rostgürtel Amerikas nach Pennsylvania: In einem ehemaligen Bergarbeiterdorf liegt in einer glühenden Felsspalte ein weiblicher Teenager. Nicht nur für die örtliche Polizei ein grausiger Anblick. Seit Jahrzehnten brennen in der längst verlassenen Gegend unterirdische Minen. Diese unlöschbaren Feuer sind eine erste Metapher für all die schwelenden Konflikte in den Familien dieses surrealen und heruntergekommenen Landstriches.

Herman Melville, Moby-Dick oder Der Wal: Kurz vor der Hälfte des Romans: Erstes Wegfieren, Beinahe-Katastrophe … eigentlich wird es jetzt richtig spannend. Doch die Jagd macht eine Pause. Bis hierhin habe ich den Mythos in tiefen Zügen genossen, doch grad eben will er nicht mehr so recht in mein Leben passen. Ich komme wieder, der Walfang wird fortgesetzt.

Juli Zeh, Neujahr: Ein Mann macht Urlaub mit der Familie, kehrt am Neujahrstag bei einer Radtour zum Ort seines kindlichen Traumas zurück und weiß anschließend, was zu tun ist. Ich habe die knapp zweihundert Seiten des Romans fertig gelesen und gebe den Rat: Wer einen Roman von Juli Zeh lesen möchte, lese Adler und Engel oder Unterleuten – aber nicht diesen hier. Voraussehbar. Unstimmig. Ärgerlich.

Historischer Stadtplan aus:
Reiner Stach, Die Kafka-Biographie in drei Bänden, S.Fischer 2017

Ende November 1922 formulierte der schwer erkrankte Franz Kafka an Max Brod seinen letzten Willen: »Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler … Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.«
Wäre es also nach Kafka gegangen, wären etwa 450 Seiten geblieben. (Hätte er das wirklich so haben wollen?)

Kampa Verlag 2019, 336 S., ISBN: 978-3-311-10018-8, auch als E-Book erhältlich.

Was muss, was sollte man wissen, um dieses Buch zu lesen? Nun, Frau Olga Tokarczuk darf sich seit letztem Jahr Literaturnobelpreisträgerin nennen, sie ist Polin und zählte, inzwischen längst etabliert, vor zwanzig Jahren zu den neuen, jungen, europäischen Autorinnen. Dass sie in ihrem konservativen Heimatland mitunter hart aneckt, wie grad mit ihrem neusten Roman »Die Jakobsbücher« versteht sich von selbst. Ich war schon lange neugierig auf die Bücher von Frau Tokarczuck, nur war mir nicht ganz klar, wie ich denn anfangen sollte. Der aktuelle Roman schien mir nicht allein der Seitenzahl wegen eine zu große Herausforderung, also wählte ich nach einigem Hin und Her »Ur und andere Zeiten«. Ein Roman, der bereits 1996 in Polen erschien, im Jahr 2000 erstmals auf Deutsch im Berlin Verlag und nun bei Kampa mit der Aufschrift ›Nobelpreis‹ dezent auf der Rückseite des Buchcovers. Ich beginne also die Lektüre und »Ur und andere Zeiten« brauchte etwa eine Seite, um mich in Verzückung zu versetzen.