Wilkie Collins: Die Frau in Weiß. Übersetzt von Arno Schmidt.
Fischer 2009, 896 S., ISBN: 978-3-596-90209-5, auch als E-Book erhältlich.

Da war einiges los in meinen 10er Jahren: 1969 die Mondlandung, 70 die WM in Mexiko und 1971 schließlich »Die Frau in Weiß«, ein Fernsehdreiteiler, der die bundesrepublikanischen Straßen leerräumte, ein Straßenfeger eben. Schaut man sich auf Youtube diese Verfilmung des Wilkie-Collins-Klassikers an, so mag dieses Fernsehstück heutzutage nicht mehr recht zünden. Und der Roman? Die Wiederentdeckung dieses Schauerromans aus der viktorianischen Zeitepoche darf sich zu großen Teilen Arno Schmidt auf die Fahnen schreiben. 1962 übersetze er die rund 800 Seiten und nach anfänglichen Bedenken seitens des Verlags wegen des Umfangs kam »Die Frau in Weiß« ungekürzt und in der Übertragung von Arno Schmidt 1965 auf den Markt. Das Buch wurde ein Bestseller (wie auch das englische Original bei seiner Erstveröffentlichung 1860) und, wenn man so will, Arno Schmidts erfolgreichstes Buch. Und heute? Ich habe (leider) ein recht schlechtes Gedächtnis und so kannte ich den Plot dieses Klassikers nur noch schemenhaft. Gute Voraussetzung aber, um die Probe aufs Exempel zu probieren: Funktioniert »Die Frau in Weiß« auch heute noch?



Nein, das Wetter in Westfalen ist nicht gut in diesen Jahren zwischen 1817 und 1821. 1815 war der Tambora, ein Vulkan östlich von Java gelegen, mit seit Menschengedenken nie erreichter Gewalt ausgebrochen und hatte weltweite Klimaänderungen zur Folge. In endlosen Regentagen entstand Mary Shelleys »Frankenstein« und William Turner brachte die ungewöhnlichsten Farbphänomene auf die Leinwand. Für die einfachen Leute galt es, Missernten zu überstehen. Man aß, soweit vorhanden, das eigene Saatgut oder Pferdefleisch. Der Adel beklagte sich indessen über die vielen Hungerleider überall. Und dann die Verkehrswege in Westfalen, der schlimmsten Gegend Europas, wie englische Reiseschriftsteller zu berichten wissen. Solche Zustände machten Kutschfahrten zur Tortur. Hier also wächst die 1897 viel zu früh geborene Annette, genannt Nette, auf. Kränklich ein Leben lang aufgrund der verfrühten Geburt, extrem kurzsichtig und frech wie Oskar. Sie gehört zum Stamm der Familien von Droste-Hülshoff und von Haxthausen, beides altwestfälischer katholischer Adel. Ein privilegiertes Leben also. Doch das Fräulein Nette hat zwei Probleme: Sie hat Talent und sie ist eine Frau. Und schon sind wir mittendrin in dem 2018 erschienen und fast 600 Seiten starken Roman von Karen Duve.
1859 betritt Oblomow die literarische Welt. Leser und Leserinnen dieses Romans von Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) haben gegenüber den Romanen der großen Dostojewskij und Tolstoi einen Vorteil: Es hat zwar viele Seiten, aber das Personal bleibt übersichtlich. Man weiß also immer, wer die handelnden Personen sind. Und wenn man bei den Hausangestellten doch einmal durcheinandergerät, hat man eben zu schnell gelesen. Es passiert außerdem nicht wahnsinnig viel auf den 746 Seiten: Oblomow, der zu Beginn des Romans etwa dreißigjährige Held, lebt in Sankt Petersburg und ist gefangen in seiner Lethargie. Den Staatsdienst hat er hingeschmissen, allein die russische Klassengesellschaft der Zarenzeit sichert ihm materielles Auskommen. Dieses gerät in Gefahr, weil selbst die Unterhaltung des väterlichen Gutes ihn überfordert: Nichts wird zur Tat, alle Gedanken zur Verbesserung erstarren zu Träumen und Phantastereien. Zudem versuchen zweifelhafte Freunde, ihn übers Ohr zu hauen. Doch es gibt zwei Personen, die ihn lieben und versuchen, Oblomow zu retten.
Diesen Roman, den wohl schönsten von Honoré de Balzacs, besitze ich in zwei Ausgaben: Als fünftes Buch der zwölfbändigen Edition Die menschliche Komödie, herausgegeben von Ernst Sander. In dieser Ausgabe überarbeitete Ernst Sander die klassische Übertragung von Hedwig Lachmann (1865-1918). Und dann die gefeierte Neuübersetzung von Melanie Walz, die zugleich Herausgeberin der Ausgabe von 2014 ist. Eine wirklich exzellente Edition mit vorzüglichem Anmerkungsapparat. Im Dünndruck und mit zwei Lesebändchen ausgestattet, wenn man sich für die gebundene Ausgabe bei Hanser entscheidet. Ich habe also Verlorene Illusionen erneut gelesen, das erste Mal in der Übersetzung von Melanie Walz. Verlorene Illusionen erschien ursprünglich in drei Teilen, Die zwei Dichter 1837, Ein großer Mann vom Land in Paris 1839 und Die Leiden des Erfinders 1844, und ist Bestandteil des Romanzyklus Die menschliche Komödie und ihr eigentlicher Mittelpunkt.
177 Seiten hat diese Geschichte, die erste der »der kurz=&=gutn 200=Seiter«, wie Arno Schmidt diese Folge von Romanen Wilhelm Raabes nannte. Entstanden ist das »Raubmörderidyll« 1875, direkt nach Abschluss der Krähenfelder Geschichten. Der Erstdruck war dann 1876. Der kleine Roman spielt in einem Dorf namens Gansewinckel im Weserland, der Heimat des Autors. Mit Horacker ist Cord Horacker, ein junger, aus der Fürsorgeanstalt entflohener Mörder und Jungfrauenschänder gemeint. Raabe spielt in dieser Geschichte wie so oft mittels seines biederen, abschweifenden, nicht selten an Jean Paul erinnernden Erzähltons, der aber offensichtlich auf etwas ganz anderes als auf Beschaulichkeit zielt. Raabe Erzählstil führt wieder einmal in die Irre. Die Kritik war entsprechend: Liebhaber feierten das Werk enthusiastisch, die meisten Feuilletons nannten den Roman eher drollig, mit Längen, Unverständlichkeiten und Unklarheiten. Grund genug der Sache einmal auf den Grund zu gehen. 142 Jahre nach dessen Erstveröffentlichung habe ich Horacker gelesen.
Zum wilden Mann, Höxter und Corvey, Eulenpfingsten, Frau Salome, Die Innerste und Vom alten Proteus entstanden zwischen April 1874 bis August 1876 und bilden zusammen die Krähenfelder Geschichten. Der Titel war Wunsch des Verlags, Raabe sah ursprünglich den Titel Vom alten Proteus vor. Seit 1870 wohnte der Autor in einer südlich vor einem der Stadttore Braunschweigs gelegenen Gegend, die das Krähenfeld genannt wurde. Die vorliegende Ausgabe konzentriert sich auf drei der weniger humorigen als mehr konsequent durchgestalteten Erzählungen Zum wilden Mann, Höxter und Corvey und Die Innerste. Mit diesen Erzählungen befindet sich Raabes Erzählen bereits auf dem Niveau der späteren Jahre, nicht alle allerdings haben mir gleich gut gefallen. Die drei Erzählungen sind vom Umfang fast gleich, jeweils um die 100 Seiten.
Ich habe Wilhelm Raabe schon immer gemocht. Seinen etwas verschrobenen, zum entschleunigten Lesen zwingenden Stil, seinen Realismus und das Gespür für die einfachen Leute seiner Zeit. Will man etwas über »the normal ones« der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erfahren, so greife man mutig zu diesen Erzählungen und Romanen. Zugegeben, Raabe zu lesen ist nicht ganz leicht, aber die Schwierigkeiten sind nicht intellektueller Art, sondern betreffen die Lesegewohnheiten: Raabe ist eine Anti-Pagetuner. Auch faszinieren mich bis heute seine differenzierte Haltung zu seinen Zeitgenossen, die überraschend modernen Themen, die der Autor aufgreift (man denke nur an Pfisters Mühle) oder die breit geschilderten Idyllen mit großer Behaglichkeit (ein Raabsches Lieblingswort), die plötzlich als Trugbild demaskiert werden. Die Heimeligkeit ist selten von Dauer. Raabe, Keller, Storm, Fontane …. ich würde mich, wäre ich gezwungen, für Raabe entscheiden. 1985 gab Insel Taschenbuch zum 75. Todestags des Autors eine 10-bändige Auswahl heraus. Als ich zur Jahreswende die Gelegenheit hatte, eine noch verschweißte Kassette mit diesen Bänden zu kaufen, konnte ich nicht widerstehen. Meine alten, arg lädierten und zusammengekauften 10 Bände wurde verschenkt und die funkelnagelneue, inzwischen 32 Jahre alte Jubiläumsausgabe steht jetzt da wie neu. Und wird gelesen. Ich habe den Plan, jeden der 10 Bände nacheinander zu lesen und im Blog vorzustellen.