Lit 1990-Heute

Rowohlt 2020, 336 S., ISBN: 978-3-7371-0085-4

Noch kein Buchgeschenk zu Weihnachten? Ich hätte einen Vorschlag zu unterbreiten, bei dem mit einiger Sicherheit auch im Last-Minute-Modus ein Treffer zu landen ist. Mit dem Bestseller »Handbuch für Zeitreisende« der »Sachbuchautorin und Sachausdenkerin« Kathrin Passig und dem Astronomen Aleks Scholz kann man kaum etwas falsch machen. Man entflieht diesem schnöden 2020 auf äußerst elegante Weise. Wir setzen die Existenz von Paralleluniversen voraus und schon macht alles hier Geschriebene Sinn. Es werden  Stippvisiten in verschiedenste Epochen der Menschheit unternommen, urgeschichtle Exkursionen besprochen und selbst ein Flug Richtung Urknall wird erörtert (und nicht empfohlen). Der Ton ist durchaus nicht ironiefrei, kommt aber ohne nervtötende Flapsigkeit aus. Größten Wert wird auf praktische Nutzbarkeit und das Vermeiden fataler Fettnäpfchen gelegt. Vor Antritt der Reise also das »Handbuch für Zeitreisende« lesen und es kann fast nichts mehr schiefgehen. Ein ideales Verschenkbuch für Frühbucher, nicht nur zur Weihnachtszeit.

Klöpfer, narr 2019, 268 S., ISBN 978-3-7496-1003-7

Schaut man sich in Wikipedia nach dem Stichwort »Sibyllinische Bücher«, dieser legendären griechischen Sammlung von Orakelsprüchen, um, kommt man schnurstracks auf Sibylle von Cumae und den letzten römischen König Tarquinius Superbus. Nimmt man den griechischen Gott Phoebus Apollon dazu, hat man im Wesentlichen das Personal beisammen, mit dem Sibylle Knauss ihre Zeitreise von der legendären Zeit der griechischen Götter bis zu unserer wohl nicht mehr allzu weit entfernten düsteren Zukunft antreten lässt. Die Autorin will unterhalten, das ist ihr Anspruch an Literatur. Und so wagt sie immer wieder Neues, wie auf dem Buchdeckel verraten wird. Hier also ein Buch über Sibylle von Cumae. Wir sind über 500 Jahre vor Christi Geburt: Sibylle hat eine Liaison mit dem Gott Apollon und als Folge wird sie eine Seherin und »Eine unsterbliche Frau«.

Kiepenheuer&Witsch 2020, 288 S., ISBN: 978-3-462-05256-5

Thomas Hettche ist Jahrgang 1964 und hat »Der Fall Arbogast«, »Die Pfaueninsel« (dafür erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis) und viele andere geschätzte und vielbeachtete Romane geschrieben. Das Thema seines jüngsten Buches ist die Augsburger Puppenkiste. Fast ein Selbstläufer möchte man meinen, denn wer kennt sie nicht: Jim Knopf und Lukas, die Prinzessin Li Si, das Urmel, die traurigen Ohrwürmer des Seele-Fanten, Kalle Wirsch und so fort – eine schier unendliche Reihe unvergessener Figuren des legendären Marionettentheaters aus Augsburg. Fasziniert hat die Puppenkiste aus Augsburg auch mich und ich lade bis heute ab und an bei Kaffee und Kuchen das Urmel, Kim Knopf oder Kalle Wirsch zu mir nach Hause ein. Von der Kraft der Phantasie in dunkler Zeit handelt dieses Buch, so verspricht der Verlag. Und so war ich sehr gespannt auf »Herzfaden«, den Roman der Augsburger Puppenkiste. 

Wieser 2020, 380 S., ISBN: 978-3-99029-438-3, aus dem Tschechischen von Raija Hauck.

Alena Mornštajnová ist eine tschechische Schriftstellerin, Jahrgang 1963, die mit ihrem dritten Roman »Hana« einen immensen Erfolg hatte und immer noch hat. Seit dessen Erscheinen 2017 in Tschechien ist sie in ihrer Heimat sehr bekannt und wurde für »Hana« mit dem tschechischen Buchpreis ausgezeichnet. Inzwischen wurde ihr Bestseller in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Dieser Roman spielt zu Beginn in einer kleinen Stadt in Mähren im Jahre 1954 und deckt im weiteren Verlauf einen Zeitraum von den 1930er Jahren bis Anfang der 1960er Jahre ab. Die Erzählerinnen ist am Anfang des Romans Mira, die eigentliche Heldin aber ist die seltsame Tante Hana. Es geht in diesem Buch um jüdisches Leben und dessen Auslöschung in einem Ort in der Tschechoslowakei, über eine Epidemie, über Familienkonstellationen über vier Generationen, über Schicksal und Zufall, Verzweiflung, Mut und Lebenswillen. Einer der außergewöhnlichsten Romane, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Berenberg 2020, S. 168, ISBN 978-3-946334-76-7, auch als E-Book erhältlich.

Wer sagt eigentlich, dass in diesem Blog grundsätzlich nur Bücher, die aus der Mode sind, besprochen werden? Wilhelm-Raabe-Preisträgerin 2020, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020: Viel aktueller geht es nicht. Die Rede ist von Christine Wunnicke und ihrem in diesem Jahr erschienen wunderlich-kleinen Roman »Die Dame mit der bemalten Hand«. Frau Wunnnickes »Masche« ist es, tatsächliche Personen der Zeitgeschichte in tatsächlich existierende Orte zu senden, um diese in erfundenem Drumherum zu verwickeln. Auf diese Weise entsteht ein Spiel mit Historie und Möglichkeit, mit Fakten und fantastischer Komödie. So hat die Autorin es in »Katie«, so hat sie es in »Der Fuchs und Dr. Shimamura« gemacht. Das hier vorgestellte, wunderbar aufgemachte Buch (Extralob dem Berenberg Verlag) hat 168 Seiten und die darin erzählte Begegnung zweier Männer der Wissenschaft ist in 12 Kapitel unterteilt.

Hanser 1993, dtv 2006, 383 Seiten, beide Ausgaben sind antiquarisch erhältlich. 

1865 wird Wilhelm Raabes Erzählung »Else von der Tanne« veröffentlicht. Ein pessimistisches, ein wenig rührseliges Kunstwerk aus Raabes Übergangszeit zwischen Früh- und Spätwerk. Es handelt von einem armen Pastor in einem Dorf in der Nähe des Südharzes direkt nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Zwei Flüchtlinge aus Magdeburg, Vater und Tochter, erreichen den Ort. Else hilft dem Pfarrer aus einer tiefen Sinnkrise, doch sind nicht nur Land und Besitz der Menschen verwüstet, auch die Seelen der Menschen sind es. Auf grad 40 Seiten wird hier das, was Krieg aus Menschen macht, verhandelt. Vielleicht ein wenig kitschig hier und da, aber insgesamt doch ein kleines Meisterstück aus Raabes Frühzeit. So ohne Weiteres hätte ich die Erzählung nicht aus dem Regal geholt, aber nachdem ich gestern die Biographie über Wilhelm Raabe von Werner Fuld fertig gelesen hatte, war mir danach, dieser Empfehlung Fulds nachzugehen: ein Treffer.

PalmArtPress 2020, 350 S., ISBN: 978-3-96258-050-6

Ein Wenderoman, ein Berlinroman, ein Künstlerroman, über 45 Jahre nach Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« – eine Menge Zuschreibungen von Verlag und Autor. Ich lasse das erst einmal alles weg und beginne mit dem Lesen. Frederic Wianka hat also mit »Die Wende im Leben des jungen W.« sein Debüt gegeben. Vom Verlag erfahren wir, dass der Autor in Potsdam und Schwerin aufgewachsen ist und, nicht ohne Ironie vermerkt, ihm am 9. November 1989 der Ausreiseantrag genehmigt wurde. (Diese Daten verraten uns, dass er ein paar Dinge mit dem Helden seines Romans gemeinsam hat.) Dann erste Lesungen 2009, ein Literaturpreis 2010, 2020 »Die Wende im Leben des jungen W.«. Genug vom Autor, legen wir also los mit dem Buch.

Insel Verlag 2020, 346 S., ISBN: 978-3-458-17848-4, auch als E-Book erhältlich.

Ursula Naumann ist Schriftstellerin und Germanisten. Der Verlag gibt auf seiner Webseite bekannt, dass die Autorin Frau Naumann heuer ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. Herzlichen Glückwunsch! Ich bin auf Ursula Naumann und ihre Biographie »El Caballero Gustavo Bergenroth. Wie ein preußischer Forscher in Spanien Geschichte schrieb« durch einen Literaturpodcast, genauer durch »Gutenbergs Welt« vom WDR gekommen: Walter von Rossum unterhält sich mit der Autorin über einen Juristen aus Ostpreußen, Jahrgang 1813, der über abenteuerlichste Wege ins spanische Simancas gelangte, um dort historische Dokumente aus der Tudorzeit zu entschlüsseln. Kein Mensch hierzulande kennt Gustav Bergenroth. Der renommierte Historiker Geoffrey Parker benennt Bergenroths Arbeiten in seiner 2019 erschienen und gefeierten Biographie »Emperor. A new life of Charles V« als außerordentlich wichtige Quellen. Wer um alles in der Welt war also dieser Bergenroth? Warum ist er so vergessen? Meine Neugierde war geweckt.

Argument mit Ariadne 2019, geb. Ausgabe, 352 S., aus dem Amerikanischen von Daisy Dunkel, ISBN: 978-3-86754-239-5
CulturBooks 2019, E-Book, ISBN: 978-3-95988-142-5 

Googelt man nach deutschsprachigen Ausgaben von Büchern der amerikanischen Schriftstellerin Tawni O’Dell, werden zwei Ausgaben desselben Buches angezeigt: »Wenn Engel brennen« bei Ariadne und eine lizenzierte E-Book-Ausgabe bei CulturBooks. Aufmerksamen amerikanischen Lesern und Leserinnen wird O’Dell spätestens seit ihrem Erfolg von »Back Roads« ein Begriff sein, zumal dieses Buch prominent verfilmt wurde. »Wenn Engel brennen« ist O’Dells sechstes Buch und ihr erster Krimi. Er führt uns in den Rostgürtel Amerikas nach Pennsylvania: In einem ehemaligen Bergarbeiterdorf liegt in einer glühenden Felsspalte ein weiblicher Teenager. Nicht nur für die örtliche Polizei ein grausiger Anblick. Seit Jahrzehnten brennen in der längst verlassenen Gegend unterirdische Minen. Diese unlöschbaren Feuer sind eine erste Metapher für all die schwelenden Konflikte in den Familien dieses surrealen und heruntergekommenen Landstriches.

Kampa Verlag 2019, 336 S., ISBN: 978-3-311-10018-8, auch als E-Book erhältlich.

Was muss, was sollte man wissen, um dieses Buch zu lesen? Nun, Frau Olga Tokarczuk darf sich seit letztem Jahr Literaturnobelpreisträgerin nennen, sie ist Polin und zählte, inzwischen längst etabliert, vor zwanzig Jahren zu den neuen, jungen, europäischen Autorinnen. Dass sie in ihrem konservativen Heimatland mitunter hart aneckt, wie grad mit ihrem neusten Roman »Die Jakobsbücher« versteht sich von selbst. Ich war schon lange neugierig auf die Bücher von Frau Tokarczuck, nur war mir nicht ganz klar, wie ich denn anfangen sollte. Der aktuelle Roman schien mir nicht allein der Seitenzahl wegen eine zu große Herausforderung, also wählte ich nach einigem Hin und Her »Ur und andere Zeiten«. Ein Roman, der bereits 1996 in Polen erschien, im Jahr 2000 erstmals auf Deutsch im Berlin Verlag und nun bei Kampa mit der Aufschrift ›Nobelpreis‹ dezent auf der Rückseite des Buchcovers. Ich beginne also die Lektüre und »Ur und andere Zeiten« brauchte etwa eine Seite, um mich in Verzückung zu versetzen.