Patrícia Melo: Der Nachbar

Tropen Verlag 2018, 159 S., ISBN 978-3-608-50387-6, übersetzt von Barbara Mesquita, auch als E-Book erhältlich

Vorweg: Patrícia Melos knapp 160 Seiten starker Roman »Der Nachbar« ist kein Kriminalroman, auch wenn er als solcher gekennzeichnet ist. Vielmehr entwickelt sich hier auf höchst originelle Art und Weise eine Groteske, ein sarkastisches Stück, das als Psychogramm eines lärmempfindlichen, vom Leben enttäuschten und frustrierten Mannes, aber auch als eine Art Psychogramm der brasilianischen Gesellschaft gelesen werden kann. Die 1962 in São Paulo geborene Schriftstellerin Patrícia Melo, ausgezeichnet mit Literatur- und Krimipreisen, hat dieses schnelle, intelligente und unterhaltsame Buch 2017 geschrieben, auf Deutsch kam es 2018 heraus, übersetzt wurde es aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita.

»I will show you fear in a handful of dust.« Dieses Zitat aus T. S. Eliots »The Waste Land« ist dem Roman und damit dem ersten von zwei Teilen vorangestellt. Wir sind in einer Eigentumswohnung in São Paulo. Hier lebt der Ich-Erzähler, ein gebeutelter Biologielehrer, mit seiner Frau. Unser Held ist maximal genervt von seinem lauten Nachbarn über ihn. Geräusch wird ihm von Tag zu Tag mehr zur Hölle. Seine Frau, eine Krankenschwester, ist genervt vom ständigen Überreagieren ihres Mannes. Der lärmende Nachbar Ygor, Senhor Ypsolon, reagiert auf die massiven und handgreiflichen Vorhaltungen unseres Erzählers nassforsch, was ein Fehler ist, denn nach einem Drittel des Buchs ist er tot. Vergeblich versucht der Biologielehrer die Tat, die eher ein Unfall war, zu verwischen. Am Ende des ersten Teils ist er selbst mehr tot als lebendig, kommt in ein Krankenhaus und dann ins Gefängnis.

»The mind is its own place, and in itself/ Can make a heav’n of hell, a hell of heav’n.« Mit diesem Zitat aus »Paradise Lost« von John Milton beginnt der zweite Teil. Dank Beziehungen bleibt unser Antiheld von einer überfüllten brasilianischen Gefängniszelle verschont und er beginnt sich rasch im Knast einzuleben. Seine Spaziergänge und Abenteuer erlebt er im Kopf und er scheint damit nicht unzufrieden zu sein. Wir begleiten ihn durch die Tücken und Fallschlingen der psychiatrischen Gutachter und der brasilianischen Justiz. Seltsam gelassen nimmt unser Erzähler dies alles zur Kenntnis.

Ich darf das alles erzählen, denn der Spannungsbogen ist nicht das Eigentliche an diesem Text. (Und ob die Tat am Schluss von dem Gericht als im unzurechnungsfähig Zustand erfolgt eingestuft wird und wie viel Jahre der Erzähler absitzen muss, wird hier ja nicht verraten.) Der Roman glänzt mit seiner pointierten Gesellschaftskritik, die nie empört oder belehrend den Lesern und Leserinnen gereicht wird, sondern stets mit Ironie und volldosiertem Sarkasmus. In Familie und Umfeld des Protagonisten passieren nämlich während der hier beschriebenen Vorgänge noch jede Menge andere Dinge und es treten noch eine Handvoll weiterer Personen auf. So entsteht eine bemerkenswerte Skizze der brasilianischen Sozialstruktur. Aber dieser Aspekt des Romans sollte selbst erlesen werden.

»Der Nachbar« von Patrícia Melo ist das richtige Buch für diejenigen, die sich gut unterhalten lassen wollen und nicht davon abgeschreckt werden, wenn sie dabei noch ein wenig aus fremden Ländern erfahren. Ein wenig Sinn für Übertreibung und schwarzen Humor darf vorausgesetzt werden. Ein sehr unterhaltendes, ein sehr lesenswertes Buch, das Lust auf mehr von dieser Autorin macht.

PS: Belasteten Menschen, die täglich übermäßig Geräusch produzierende Nachbarn zu ertragen haben, mag das Buch als Therapeutikum dienen. Es hilft, eine Zeitlang wenigstens.

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