Lit 1990-Heute

Oktoberfest-Denkmal (Wikipedia)
Das eben begonnene Jahr könnte ein aufregendes für die noch lebenden und die Angehörigen und Freunde aller Opfer des Münchner Oktoberfestattentats von 1980 werden. Und ein aufregendes Jahr für Rechtsanwalt Werner Dietrich, der die Opfer des Anschlags seit Beginn an vertritt, sowie für Ulrich Chaussy, Journalist, Buchautor und ebenfalls seit den frühen 1980ern ein vehementer Kritiker der staatlichen Ermittlungen in diesem Fall. Im November letzten Jahres meldete die Süddeutsche Zeitung, daß die Bundesanwaltschaft erwäge, die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wieder aufzunehmen, da auf Antrag des Opferanwalts Werner Dietrich eine neue, offensichtlich sehr glaubwürdige und wichtige Zeugin angeführt wurde. Diese Zeugin kenne den Namen eines zweiten Täters. Dieses Jahr nun die Meldung, daß der Generalbundesanwalt Harald Range von den deutschen Geheimdiensten die Herausgabe aller Akten, die in Bezug zum Attentat stünden, gefordert hätte. Auch wenn viele Chancen der Aufklärung des folgenreichsten Terroranschlags auf deutschen Boden längst vertan wurden (man denke nur an die Vernichtungen der Asservate und die heutigen Möglichkeiten der DNA-Analyse), scheint nun alles wieder auf Anfang gestellt. Vierunddreißig Jahre danach …

Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2013; ISBN 9783462045161, Gebunden, 352 Seiten

Joachim Meyerhoff ist ein gefragter Theaterschauspieler, zur Zeit mit Engagements am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und dem Burgtheater in Wien, und er ist ein erfolgreicher Autor obendrein. „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ ist der zweite Teil des sechsteiligen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“. Meyerhoff erzählt von seiner Kindheit inmitten der Kinder- und Jugendpsychatrie Hesterberg am Rande der Stadt Schleswig. Die Anstalt beherbergte 1200 Patienten, allerdings nicht ausschließlich Kinder und Jugendliche, sondern auch erwachsene Menschen mit körperlicher, geistiger und psychischer Behinderung. Und im wahrsten Sinne des Wortes mittendrin lebt Joachim mit seinem Vater, dem erfolgreichen, aber weitesgehend lebensunpraktischen Direktor der Psychatrie, seiner mit der ihr zugedachten Rolle hadernden Mutter, seinen zwei ihn traktierenden älteren Brüdern und dem Familienhund, der ihm nicht selten der treueste Freund zu sein hat. Aber nicht nur aus dem Leben seiner Familie, auch aus dem der Patienten wird mit Humor, Respekt und Zuneigung erzählt. Meyerhoffer geht hierbei nicht zwingend chronologisch vor. Es gibt Erinnerungssprünge und auch weit über seine Kindheit hinausgehende Begebenheiten, die in dem Roman ihren Platz finden.

Suhrkamp Verlag Berlin 2011, 492 S., ISBN: 978-3-518-42222-9 (auch als TB und ebook erhältlich)

Vor einigen Jahren besuchte ich Szczecin, wo meine Großeltern lebten, als die Stadt noch Stettin genannt wurde und eine deutsche Hafenstadt an der Oder war. Zu großen Teilen kamen die Vorfahren meiner Familie aus Gegenden östlich der Oder (auf der Höhe zwischen Frankfurt-Oder und Stettin) die heute in Westpolen liegen. Deshalb ist mir die Problematik der Zwangsumsiedlungen der Ostpolen in die neuen westpolnischen Gebiete nach dem Potsdamer Abkommen von 1945 nicht unbekannt. Genau diese Problematik behandelt Sandberg, ein 2009 in Polen erschienener, zu Recht gefeierter Roman der 1968 ebendort geborenen Schriftstellerin Joanna Bator. Grund genug, mich mit diesem knapp 500 Seiten starken Buch zu befassen.

Hanser Verlag 2011, 320 S., ISBN 978-3-446-23630-1

Zu Beginn meiner Empfehlung, als eine Art bequem erzeugte Zusammenfassung, der Klappentext des Hanser Verlags zum Inhalt Alex Capus 2011 erschienen Romans „Léon und Louise“:

„Zwei junge Leute verlieben sich, aber der Krieg bringt sie auseinander: Das ist die Geschichte von Leon und Louise. Sie beginnt mit ihrer Begegnung im Ersten Weltkrieg in Frankreich an der Atlantikküste, doch dann trennt sie ein Fliegerangriff mit Gewalt. Sie halten einander für tot, Leon heiratet, Louise geht ihren eigenen Weg – bis sie sich 1928 zufällig in der Pariser Metro wiederbegegnen. Alex Capus erzählt von der Liebe in einem Jahrhundert der Kriege, von diesem Paar, das gegen alle Konventionen an seiner Liebe festhält und ein eigensinniges, manchmal unerhört komisches Doppelleben führt. Die Geschichte einer großen Liebe, gelebt gegen die ganze Welt.“

Kiepenheuer und Witsch, 576 S., ISBN: 978-3-462-04466-9

Berlin 1932: Ein ertrunkener Mann in einem Lastenaufzug, eine junge Frau in der Mordkommission und ein Indianer in den masurischen Wäldern. Vertuschter Mord, gepanschter Schnaps, organisiertes Verbrechen. Bayern München wird Deutscher Fußballmeister und gegen die Berliner Polizeiführung wird geputscht. Durch den östlichen Teil des deutschen Reichs zieht sich ein polnischer Korridor, während im südlichen Ostpreußen große Teile der Masuren (sich vorzustellen als eine Art von Ostwestfalen! O-Ton Rath) Adolf Hitler als ihren Heilsbringer feiern. Eine Menge Stoff für einen Kriminalroman.

Klett-Cotta, 304 S. (Print), ISBN: 978-3-608-94807-3

Allein bei dem Titel „Kriegsenkel“ hört man provozierte Stimmen aus dem Off: „Was habt ihr denn schon mit dem Krieg zu tun? Ihr habt doch ein sorgenfreies Leben.“ So raunen die Kriegskinder, während viele Freunde der in den 1960ern geboren und heute längst erwachsenen Enkel Generationskonflikte als für zwingend erledigt betrachten. Doch so einfach ist die Sache nicht. Das behauptet Sabine Bode in ihrem 2009 erschienen Buch. Doch worum geht es eigentlich?

Chris Ware, der Erschafffer des außergewöhnlichen Comics „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“, das es jetzt endlich auch in deutscher Sprache gibt, auf der Leipziger Buchmesse. Der Ton ist leider nicht so berühmt, interessant ist das Interview auf jeden Fall. Einen lesenswerten Aufsatz von Katja Lüthge über die berühmte Graphic Novel gibt es hier (externer Link) in der Taz zu lesen. Wer Leseproben ansehen will, sei auf die entsprechende Seite des Reprodukt Verlags (externer Link) hingewiesen.

Evolver, 200 Seiten (Print), ISBN: 978-3950255874

Das Gute zuerst: Es geht in Fleischwölfe nicht um Vergewaltigung, wie das Cover nahelegen könnte. Es geht um Kannibalismus: Äpfel sind böse (sagt die Bibel), wir sind Gottes Kinder, wir essen Fleisch. Das Fleisch von zufällig vorbeifahrenden Passanten in einer atomverseuchten Wüste. Beschrieben wird die Nahrungsbeschaffung der reizenden Familie Stern aus verschiedenen Perspektiven: Die des Sohnes der Familie, eines ehemaligen Polizisten, eines Liebhabers des Horrorvideo-Genres, eines Toten und mehr. Dann stellt sich noch die Frage, ob es den Film, dem das Buch vorausging, überhaupt gibt, geben kann? Oder ist alles Fiktion? Und was machen die Medien daraus?

Hoffmann und Campe, 240 Seiten, ISBN 978-3-455-40418-0

Eine Konstruktion wie ein Escher-Bild, so oder so ähnlich könnte man dieses Buch nach seiner Besonderheit gefragt beschreiben: Der Held (und Freund des Autors) Benjamin Lee Baumgärtner verliebt sich immer wieder aufs Neue an Orten (London bis Bienenbüttel), an denen grad eine Seuche (von Rinderwahnsinn bis  EHEC) ausbricht. Nebenher sucht er nach seinem indianisch-stämmigen Vater. Im Buch treten aber auch das Buch selbst und der Autor auf. Situationen werden typografisch dargestellt und verdeutlicht (ein Hoch auf die Druckkunst!) und um zu zeigen, wie man nichts versteht, wenn in einem Raum chinesisch gesprochen wird, werden schon einmal ein paar Seiten mit chinesischen Schriftzeichen gedruckt. Das ist intelligente Spielerei, ohne Frage gelungen, aber mit der Zeit auch ermüdend. Ebenso wie das gewollte Verzögern der Handlung,um langen Diskussionen über Sprache Raum zu geben. Eine intellektuelle Spielwiese, auf der sich zu amüsieren Wolf Haas den Leser einlädt. Vom typisch lakonisch-flapsigen Haas-Ton bleibt bedauerlicher Weise zu oft nur die Weitschweifigkeit. Konstruktion frißt Flair, hätte mein Urteil gelautet, wäre da nicht der wirklich amüsante Schluß gewesen. Plötzlich wird wieder erzählt, überraschend und sehr witzig. Ich schließe das Buch lachend, aber auch ein wenig ratlos.

ALOIS NEBEL
Voland & Quist, 360 Seiten, ISBN 978-3-863910-12-9

Schon Wolfgang Hildesheimer ließ seinen Romanhelden in Tynset Kursbücher lesen und auch Alois Nebel, Fahrdienstleiter an einem kleinen Bahnhof an der tschechoslowakisch-polnischen Grenze, im ehemaligen Sudetenland, sammelt und liest am liebsten Fahrpläne („Ich lese auch gerne auf dem Klo. – Was denn? – Fahrpläne. Da ist immer alles gleich“). Geplagt wird er von Alpträumen, die ihn bei nebliger Witterung heimsuchen: Geister aus den Epochen der jüngeren Geschichte Mitteleuropas (Nazizeit, Vertreibung der Deutschen, sowjetische Besatzung) fahren in Zügen durch Alois Nebels Bahnhof. Schließlich bringen diese düsteren Visionen den Helden in eine Nervenheilanstalt. Er lernt den mysteriösen Stummen kennen und freundet sich mit ihm an. Der Kampf gegen seine Dämonen beginnt, und auch eine wunderbare Liebesgeschichte.