Georg Trakl: Dichtungen und Briefe.

Otto Müller Verlag 2020, Hrsg. v. Hans Weichselbaum, 617 Seiten, ISBN: 978-3701312825. Auch als E-Book erhältlich.

Irgendwie konnte ich meine Trakl-Abteilung nicht finden. Sie stand, wie sich ein paar Tage später herausstellen sollte, viel zu präsent in vorderster Reihe im Regal und bestand bis zu diesem Tage aus einer betagten Taschenbuchausgabe von dtv »Das dichterische Werk« und der noch betagteren Rowohlt-Bildmonographie von Otto Basil. Inzwischen hatte ich mir die 2020 im Otto Müller Verlag erschienene und von Hans Weichselbaum herausgegebene neue Werkausgabe zugelegt. Dieser Brocken von Buch mit dem Titel »Dichtungen und Briefe« stellt eine aktuelle Überarbeitung der historisch-kritischen Trakl-Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar von 1969 und ihrer ergänzten 2. Auflage von 1987 dar. Allerdings ohne den im zweiten Band enthaltenen historisch-kritischen Apparat, dafür mit neu aufgetauchten Gedichten und Texten. Im Folgenden soll weniger von Georg Trakl die Rede sein, sondern davon, was es mit der neuen Ausgabe auf sich hat, ob sich die Anschaffung der neuen Werkausgabe lohnt, für wen es sich lohnt und was es eventuell an Alternativen gäbe.

Zugegeben, ich war ein wenig verwirrt, als ich in dieser über 1,3 kg schweren Neuausgabe blätterte: Gedichte, Sebastian im Traum, Brenner, sonstige Veröffentlichungen zu Lebzeiten, der Nachlass, ab Seite 500 etwa kommen etwas mehr als 100 Briefe, eine knappe Lebenschronik, ein Nachwort des Herausgebers Hans Weichselbaum von 5 Seiten, das diese Edition erläutert, Quellenangaben, ein alphabetisches Verzeichnis, ein Inhaltsverzeichnis – die Zeilen durchgehend nummeriert, das Layout ganz wunderbar, großzügig, sehr lesbar – aber ein Anhang? Etwas mehr als eine Chronik über das kurze Leben des so einflussreichen Dichters, die Einordnung seines Werkes? Über die Anordnung der Texte? Erklärungen? Erläuterungen? Auch wenn diese Ausgabe keine historisch-kritische sein will: Wirklich nur die Texte? Ja, so ist es tatsächlich. Ich begann also das Nachwort des Herausgebers Hans Weichselbaum aufmerksam zu lesen, was bei 5 Seiten Länge machbar ist. Und ich stieß im Netz neben einigen geradezu enthusiastischen Rezensionen über diese Ausgabe auf eine Besprechung des Literaturkritikers, Rundfunkautors und Publizisten Thomas Diecks. Und so fügte sich ein Bild, dass ich kurz skizzieren möchte:

Es gab 1969 eine historisch-kritische Ausgabe der »Dichtungen und Briefe« Georg Trakls in 2 Bänden, Texte und Apparat. Herausgeber waren Walther Killy und Hans Szklenar, erschienen sind die Bücher im Otto Müller Verlag. 1987 gab es eine den Apparat ergänzende 2. Auflage. Diese Ausgabe war für lange Zeit die Grundlage für die Beschäftigung mit dem Werk von Georg Trakl. Sie wird im Folgenden in Abkürzung HKA genannt. Diese Ausgabe ist seit längerer Zeit vergriffen. Es gab auch eine Taschenbuchausgabe des Textbandes im Otto Müller Verlag. Auch diese ist inzwischen nur noch antiquarisch greifbar. Zwischen 1995 und 2014 kam bei Stroemfeld/roter Stern die Innsbrucker Ausgabe (ITA) in sechs Bänden heraus, eine historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Diese Ausgabe hatte sich u. a. zur Aufgabe gemacht, Arbeitsweise und Textstufen in Trakls Werk sichtbar zu machen. Die ITA zeigt Trakl beim Schreiben, für uns, die wir fertige Texte lesen wollen, ist diese Ausgabe, auch wenn wir die Arbeit dahinter bewundern, eher weniger von Interesse. Der Herausgeber der hier besprochenen Ausgabe, Hans Weichselbaum, räumt in seinem Nachwort ein, dass Erkenntnisse der alten HKA durch die ITA korrigiert wurden. Inwieweit sagt er nicht. Noch zu erwähnen ist, dass es preisgünstige Ausgaben aus dem Werk Georg Trakls bei dtv (Gedichte) und Reclam (Nachlass, Briefe) gibt, die auf Grundlage der HKA zusammengestellt sind und interessierten Lesern und Leserinnen den Komfort von Erläuterung und erhellenden Nachworte bieten.

Dieses tut die neue Trakl-Ausgabe von 2020 leider nicht. Im Nachwort erläutert Herausgeber und Trakl Biograph Weichselbaum die Gründe für diese Ausgabe, die auch optisch unverkennbar an die HKA von 1969/87 anknüpft. Man möchte erstens wieder eine greifbare Trakl-Werkausgabe im Verlag haben. Außerdem gab es im letzten Jahrzehnt Zufallsfunde von Trakl-Texten. Die Hintergründe zu diesen Funden sind durchaus spannend zu lesen und werden im Nachwort ausführlich erzählt: Einige Rezension, drei Gedichte und Varianten von bekannten Gedichten fließen demnach neu in diese Ausgabe ein. Neu aufgenommen wurden auch zehn Briefe, u. a. an Ludwig Wittgenstein und Adolf Loos. Einige Briefe wurden auch weggelassen, was Thomas Diecks beklagt. Ob mit Recht, weiß ich nicht zu sagen. 

Was dieser Werkausgabe definitiv fehlt, ist ein in das Werk hineinführender Text, ein paar Worte zur Anordnungen der Texte, eine Literaturliste. Ich sag es hier in meiner Alltagssprache: Das solche Hilfsmittel für interessierte Trakl Leser und Leserinnen in einer solchen prachtvollen Lesausgabe nicht verfügbar sind, fühlt sich irgendwie komisch an. Unbefriedigend. So würde ich Interessierten auch eher zu den beiden Taschenbuchausgaben bei Reclam und dtv raten. Die kosten zusammen weniger als die Hälfte dieser Ausgabe, tun gewiss ihren Dienst und lassen noch Geld für eine aktuelle Biographie übrig: Etwa die von Hans Weichselbaum selbst, die ich empfehlen kann, da ich sie dieser Tage mit Gewinn lese, oder die von Rüdiger Görners, die ich aber nicht gelesen habe. Wer die historisch-kritische Ausgabe von 1969/87 in seinem Regal stehen hat, wird es sich überlegen, ob er hier zugreifen muss. Und wer sich die neue Trakl Ausgabe »Dichtungen und Briefe« zugelegt hat, wird vielleicht hin und wieder nach einer Ausgabe der HKA in Antiquariaten Ausschau halten? Aber ja doch: Diese Werkausgabe ist eine schöne und Georg Trakls Gedichte, Briefe und Texte sind darin mit Lust zu lesen, ganz ohne Zweifel. Nur rund ist sie nicht.

Die Ausgabe von 2020 neben der HKA 1969/87

Erwähnte Werkausgaben:
TRAKL, Georg: Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Walther Killy und Hans Szklenar. 2 Bde, 1969, 2. erg. Auflage, Salzburg 1987. (= Historisch-kritische Ausgabe, HKA)
TRAKL, Georg: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Innsbrucker Ausgabe (ITA). Bd. I–VI. Basel/Frankfurt 1995–2014. (= Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Georg Trakls)
TRAKL, Georg: Das dichterische Werk: dtv 1972. ISBN: 978-3423124966. Die Gedichte sind in Fassung und Anordnung identisch mit der Erstausgabe der HKA von 1969. Der kritische Apparat wurde für ausgewählte Gedichte vereinfacht übernommen. Keine Briefe. Ist als TB in der unveränderten 18. Auflage/2007 erhältlich.
TRAKL, Georg: Werke – Entwürfe – Briefe. Hg: Hans-Georg Kemper. Hg: Hans-Georg Kemper. Reclam 1986, 367 Seiten, ISBN: 978-3150082515. (Grundlage auch hier die HKA von 1969, ausführliches Nachwort von H.-G. Kemper)

Erwähnte Biographien:
BASIL, Otto: Trakl – Georg Trakl mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 183 Seiten. Rowohlts Monographien 1965. Antiquarisch gut erhältlich.
GÖRNERS, Rüdiger: Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Zsolnay Verlag 2014, 352 Seiten, ISBN 9783552056978. (Auch als E-Book erhältlich)
WEICHSELBAUM, Hans: Georg Trakl – Eine Biografie. Otto Müller Verlag 2014. 224 Seten. Überarbeitung der Ausgabe von 1994. ISBN: 978-3-7013-1219-1. (Auch als E-Book erhältlich)

Erwähnte Rezension:
DIECKS, Thomas: Rezension vom 25.11.2020 über die neue Trakl Werkausgabe von 2020. (Autor und Trakl in den Browser eingeben und man gelangt zu der 3½-seitigen Besprechung als PDF)

4 Kommentare on "Georg Trakl: Dichtungen und Briefe."


  1. Trakl ist mE einer der faszinierendsten, wenn nicht der faszinierendste deutschsprachige Dichter. In seinem kurzen Leben hat er in seinen besten Werken eine im besten Sinne moderne Sprache gefunden, die vergangenes nicht durchstreicht, keine Angst hat vor klassischer Schönheit und Pathos, und dir doch (bzw. deshalb) auf Augenhöhe ist mit der der größten internationalen klassischen Modernisten… und dass mW, ohne dass er internationale Autoren besonders rezipierte… man findet aber wie du schreibst leider sehr wenig zu Trakl, zumindest wenn man keinen Zugriff mehr hat auf Uni-Kathaloge…
    Ich habe in einem älteren Text (https://soerenheim.wordpress.com/2015/03/08/der-ausergewohnliche-georg-trakl/), an dem ich heute vll das ein oder andere ändern würde, einmal spekuliert, ob Trakl für seine Moderne wie Pound & Eliot mit chinesischen Quellen in Kontakt kam und habe zu meiner Helian Lesung (https://www.youtube.com/watch?v=HVGQ2IUkH6g) diese Zuschrift erhalten, allerdings ohne jeden Beleg: „Trakl was familiar with one german translation of chinese poetry. So there is some bridge, but while being observant, Georg remained sonorous, in the vein of german romantic tradition.“

    So oder so – bei Trakl gibt es schon viel Kitsch & Dutzendware, aber wo ein Text ganz gelingt, gibt es wenig vergleichbares in deutscher Sprache. Bei Rainer Maria Gerhardt vll, vll auch beim jungen Thomas Bernhardt…

    Antworten

    1. Vielen Dank für Deinen schönen Kommentar! Ich bin nun keineswegs eine Kennerin von Lyrik, aber ein Trakl-Band, und wäre es nur ein schmaler, käme mit auf die sprichwörtliche Insel.

      Antworten

      1. Ein Trakl-Band ist ja irgendwie immer recht schmal 😉 Meine „Sämtlichen Gedichte“, die aber auch Prosa enthalten (kA ob alle) + Nachwort hat 200 Seiten… und die Schrift ist recht groß.

        Antworten

        1. Hast natürlich recht: um dick zu werden braucht es Nachwort, Apparat, große Schrift und großzügiges Layout. Dann geht es aber schon, siehe Bild. 😉

          Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert