Hanser 2020, 800 S., ISBN: 978-3446267695, neu übersetzt von Elisabeth Edl.
Gustave Flaubert wurde 1821 in Rouen, Frankreich geboren. Er starb 1880 in Croisset bei Rouen. Berühmt und wegweisend wurden seine Romane aufgrund seines objektivierenden Erzählstils: Keine Urteile, kein Erzähler, der in die Handlung eingreift. Die Figuren sprechen für sich und Widersprüche sind erwünscht. Dieses Credo verlangt eine besessene Recherche, für die der Autor berüchtigt war: Die beschriebenen Dinge müssen »richtig« sein, die Details haben zu stimmen. Gleichzeitig versuchte Flaubert die Sprache des Romans so nah wie möglich der Lyrik anzugleichen, der Rhythmus der Sprache ist entscheidend, jeder Satz jedes Wort hat seine Bedeutung. Kurz: Flaubert hat im Roman Neues geschaffen. Elisabeth Edl hat nach »Madame Bovary« nun auch das zweite große Meisterwerk des Franzosen übersetzt: Aus »Die Schule des Herzens«, »Lehrjahre des Gefühls« und Varianten davon wurde nun »Lehrjahre der Männlichkeit«. Ein erstes Thema für alle Kritiker der gefeierten Neuübersetzung.
Fang also auch ich mit dem Titel an: »L’éducation sentimentale« heißt der im Original. Ich bin des Französischen (leider) nicht mächtig, aber hier kann selbst ich aus den Wörtern einen Sinn erzeugen. Scheinbar, denn das größte Problem stellt das Wort »sentimentale« dar: keineswegs mit »Gefühl« oder »Empfindsamkeit« zureichend übersetzt, da es in der Originalsprache eine weit größere Bedeutungsbreite abdeckt. Es gibt keine deutsche Entsprechung für dieses Wort. So Elisabeth Edl, die viele Seiten in ihrem kenntnisreichen, fast 70 Seiten langen Nachwort der Rechtfertigung des ungewöhnlichen und scheinbar recht weit vom Original gewählten Titels widmet. Zu was für eine Männlichkeit gelangt Frédéric Moreau denn über die Jahre eigentlich? Diese ironische Doppeldeutigkeit scheint mir der stichhaltigste Grund für eben diese Übertragung des Buchtitels zu sein und ich darf sagen, dass ich nach der Lektüre des Buches mit dem von Frau Edl gewählten Titel sehr viel mehr einverstanden bin, als ich es zu Beginn war.
Worum geht es in dem Buch? Der Student Frédéric Moreau zieht 1840 aus der Provinz nach Paris. Was er werden will (Was mit Kunst? Was mit Politik?), weiß er nicht so recht. Gleich zu Beginn der Handlung verliebt er sich auf einem Schiff in Madame Arnoux, Gattin eines durchaus zwielichtigen Kunsthändlers in Paris. Es sind äußerst unruhige Zeiten in dem vorrevolutionären Paris mit dem großen Aufstand 1848. In dieser Zeitspanne begleiten wir den Helden, der seine Bestimmung sucht und nicht findet. Es treten Frédérics Freund Deslauriers, ein ehrgeiziger Advokat, auf, revolutionär gesinnte Kunstschaffende und Zeitungsleute, Geschäftemacher und Aktionäre wie Dambreuse mit seinem Helfer Roque, einem Heuchler und Mörder. Die Frauen in diesem Roman sind einerseits in ihren gesellschaftlichen Rollen gefangen, andererseits durchaus agierend. Einer meiner Lieblingspersonen ist die Marschallin Rosanette, eine der Mätressen (und da gibt es einige) des schönen Frédérics. Eine erschütternde Szene des Buches, als sich die selbstbewusste Kurtisane Rosanette dem Helden öffnet und über eine Schlüsselszene aus ihrer Kindheit und Jugend berichtet. Überhaupt die Szenen: Als Leserin fühlte ich mich richtiggehend hineinversetzt in die Handlung. So genau sind die Bilder und Beschreibungen, ob auf einem Maskenball oder im Wald von Fontainebleau oder zwischen den Barrikaden in Paris. Und immer diese Ambivalenz von großer Geste und romantischen Gefühl auf der einen und purer Trivialität und eisigem Kalkül auf der anderen Seite. Anders als bei Balzac (an dessen Romane vieles erinnert, denn es geht immer auch ums Geld) trifft dieses Sinnentleerte bei Flaubert auch auf die handelnden Personen zu. Desillusion wohin man schaut. Frédéric Moreau ist in der Tat der armseligste Held, den man sich vorstellen kann. Und er weiß das am Ende des Romans.
Das fast 70-seitige Nachwort hatte ich erwähnt, doch es gibt in dieser Ausgabe auch eine kurze und hilfreiche Chronologie der politischen Ereignisse in Frankreich von 1814 bis 1870 und einen Anmerkungsapparat von stolzen 140 Seiten. Wer möchte, kann also nach der Lektüre gleich wieder von vorn beginnen und von Lektüre zu Lektüre tiefer in die Verweise und Subtexte dieses Klassikers eintauchen. Ich kann über die ein wenig großspurig anmutende Attitüde der Übersetzerin, was die Qualität der eigenen Übersetzung angeht, schwer urteilen. Auffällig ist, dass Kritiker in der taz und der SZ explizit darauf hingewiesen haben, dass es auch andere, weiterhin gültige Übersetzungen (1951 die von Paul Wiegler, 2001 die von Maria Dessauer) gibt. Die meisten Feuilletonisten haben diese Arbeit von Frau Edl begeistert besprochen, für schlecht befunden hat sie niemand. Wie dem auch sei: Ich darf sagen, dass ich bei der Lektüre dieser Übertragung von Elisabeth Edl das erste Mal ein wirkliches Gefühl davon bekommen habe, was die Modernität und die Faszination in Flauberts Werk ausmacht. Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit den Romanen des großen französischen Autors. Meine Liebe ist nun endlich entfacht.
Ich musste das Buch nach gerade mal zwei Jahren Französisch in der Schule im Original lesen, und wie ich beim Lesen Deines Beitrags bemerkt habe, tja, da ist nix hängen geblieben. Aber jetzt bin ich doch neugierig. Diese Übersetzung werde ich mir schnappen, sobald sie in „meiner“ Bibliothek zu haben ist. Danke für den Tipp!!!
Oh Stephanie, das kenne ich nur zu gut. Hatte vor vielen Jahren diesen Klassiker auch schon mal gelesen (allerdings in einer anderen deutschen Übersetzung) und ich wußte nichts mehr davon. Ich freue mich, dass mein Beitrag Dich zu einer (hoffentlich bald möglichen) Lektüre inspiriert hat. Beste Dank für Deinen Kommentar!