Julien Green: Treibgut

Hanser 2024, 400 S., ISBN 978-3-446-27951-3, aus dem Französischen von Wolfgang Matz, auch als E-Book erhältlich.

Julien Greens „Treibgut“ ist eine Neuübersetzung dieses Romans von Wofgang Matz, der auch als Herausgeber verantwortlich ist. Mir fiel beim Namen Julien Green sofort der „Leviathan“ ein. Den einzigen Roman des Autors, den ich bisher gelesen habe, allerdings vor sehr langer Zeit. Dieses neue, wunderbar aufgemachte Buch des Hanser Verlags zeigt auf dem Umschlag eine Fotografie des Seine-Quais mit Blick über das Viaduc de Passy auf den Eiffelturm aus den 1930er Jahren. Ob am Morgen oder Abend aufgenommen, weiß ich nicht zu sagen, auf jeden Fall wirkt das Bild durch eine diffuse, neblige Unschärfe. Der eigentliche Roman umfasst 329 Seiten, die restlichen 70 gehören dem umfangreichen Anhang (Nachwort, editorische Notiz, Abbildungen, Anmerkungen, Zeittafel). Dass ich das gut 40-seitige Nachwort entgegen meinen Gepflogenheiten erst am Schluss gelesen habe, war eine sehr gute Idee, denn in diesem Fall heißt es nicht grundlos Nach-Wort. Später mehr dazu.

Was muss man über Julien Green wissen? Machen wir es kurz: Der Autor wurde als Sohn amerikanischer Eltern 1900 in Paris geboren. Dort starb er hochbetagt 1998. Obgleich er oft im Zusammenhang mit Marcel Proust und André Gide genannt wird, blieb sein Werk solitär und ist keinem literarischen Stil oder einer Epoche zuzuordnen. „Mont-Cinère“ 1926, „Adrienne Mesurat“ 1927 und „Léviathan“ 1929 waren seine drei großen frühen Erfolge. Sie alle spielten irgendwo in der Provinz, beliebige Schauplätze also. „Treibgut“ wird 1932 veröffentlicht und spielt sehr konkret in Paris. In einem realistischem (man kann mit der Karte die erwähnten Orte suchen) und zugleich mystisch aufgeladenen Paris. Symbolismus und Realismus vereint in einem Roman sowie die niederschmetternde Charakterisierung des Bürgertums waren ein bisschen viel für die Zeit und der Roman wurde nach Erscheinen von der Kritik sehr negativ aufgenommen. Heute sehen wir das vielleicht anders. Aber genug, kommen wir zur Handlung.

Der reiche, noch relativ junge Industriellensohn Philippe Clercy wohnt in einem Pariser Stadthaus Anfang der 1930er Jahren. Er ist ein interessenloser, von finanziellen Zwängen befreiter Mann, der Wert auf sein Äußeres, vor allem seinen Körper legt, der in ständiger Angst lebt, sich in seiner bürgerlichem Umgebung lächerlich zu machen, und sich fortwährend Gedanken über den Sinn seines Daseins macht. Er wohnt seit elf Jahren mit seiner Frau Henriette und deren älterer Schwester Éliane zusammen. Während Henriette ihren Mann in einer Art romantischer Liebe mit einem proletarischen Geliebten betrügt, ist, obgleich sie ihn verachtet, Éliane (das ältere Fräulein mit 31 Jahren!) in ihren Schwager Phillipe verliebt. Später im Roman taucht der Sohn des Ehepaars Robert auf. Er wird im Verlauf der Handlung immerhin so etwas wie eine Beziehung zu seinem Vater aufbauen. Die drei anderen erwachsenen Personen kreisen wie fremde Planeten umeinander, hin und wieder hilflose Versuche einer Kommunikation, letztlich aber doch ein Sinnbild abgebend für die in Regeln und Tabus erstarrten Beziehungen der bürgerlichen Welt (dieser Zeit?). Ich als Leserin erwartete bei fortschreitender Lektüre jederzeit eine plötzlich eintretende Katastrophe. Die Stimmung ist erstarrt, voller Spannung, gemein und explosiv zugleich. Eine Hölle.

Zu Beginn des Romans, es ist Nacht im herbstlichen Paris, spaziert Philippe auf dem Boulevard Delessert. An der Brüstung oberhalb der Rue Beethoven bleibt er stehen und beobacht, wie ein Paar, das offensichtlich der niederen Klasse angehört, heftig streitet und die Frau schließlich zu ihm blickend um Hilfe ruft. Erschrocken wendet sich Philippe ab. Über seine feige Reaktion entsetzt, kehrt er am nächsten Tag zurück. Es gelingt ihm aber nicht, seine Mutlosigkeit zu überwinden. Er versucht, sich verschlüsselt mit seiner Schwägerin über das Erlebte auszutauschen. Es gelingt nicht, allerdings wird die unerwiderte Liebe Éliane zu Philippe bei dieser Unterhaltung deutlich sichtbar. Seine Ehefrau sucht derweil das Vergnügen, aber auch das ist Fassade. Henriette, die wie ihre Schwester Éliane in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, sehnt sich nach der als Kind erlebten familiären Geborgenheit. Ihr setzt die Kälte ihrer bürgerlichen Umgebung zu. Éliane hingegen, die die Ehe ihrer Schwester mit ihrem Schwager seinerzeit forciert hat, geht es um materielle Sicherheit. So in etwa ist die Ausgangssituation. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, wobei die beiden letzten Teil noch jeweils in Kapitel aufgeteilt sind. Aber ich muss nun, soweit ich das kann, die Stilmittel Greens erwähnen.

Da ist einerseits dieses wie schon erwähnte exakt kartierte Paris gesetzt neben andererseits der ahnungsvollen Stimmung, dem Nebel, der grausamen Gleichgültigkeit dieser Riesenstadt. Da sind Dialoge, die grotesk ins Sprachlose münden, und inneren Monologe und Träume der Protagonisten neben dem offensichtlichen Realsimus der Erzählung. Rückblenden, aber auch surrealistisch anmutende Situation, z. B. wenn während einer Verwaltungsratssitzung Philippe plötzlich einen Wachtraum hat: Eine Gruppe von Arbeitern stürmt den Saal und hängt den Vorsitzenden am Kronleuchter auf. Kurz: Man ist sich in diesem Text nie sicher, was als Nächstes passiert, liest weiter und wartet auf irgendeine Art von Erlösung für sich und die Figuren. Dabei wirken die Wechsel der erzählerischen Mitteln durchdacht, nicht zufällig.

Die Bezüge, die anhand dieses Textes herzustellen sind, sind mannigfaltig. So darf nicht vergessen werden, dass hier geschichtlich betrachtet der 1. Weltkrieg noch deutlich nachhallt und der 2. direkt bevorsteht. Auch solches findet in dem Roman sein Echo. Außerordentlich hilfreich ist hier das profunde Nachwort, alles an dieser Ausgabe kann ich nur loben. Wer nun aber doch das Nachwort zuerst lesen möchte, dem sei gesagt, dass er noch einmal gewarnt wird, wenn der Herausgeber Wolfgang Matz eine weitere Lesart des Romans uns Lesern und Leserinnen präsentiert. Und die hat es in sich. Ich darf mich glücklich schätzen, nichts vorher gelesen zu haben, auch keine Rezension, so dass der Überraschungseffekt (flache Hand gegen die Stirn) funktioniert hat.

Mein Fazit: Ein faszinierender Roman, den ich gewiss nach einmal lesen möchte und werde, und eine sehr gelungene Ausgabe.

2 Kommentare on "Julien Green: Treibgut"


  1. Klingt wirklich faszinierend – pack ich direkt auf die Liste. Danke für den Tipp – du hast mir große Lust auf das Buch gemacht 🙂 Liebe Grüße, Sabine

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