Kampa Verlag 2019, 336 S., ISBN: 978-3-311-10018-8, auch als E-Book erhältlich.
Was muss, was sollte man wissen, um dieses Buch zu lesen? Nun, Frau Olga Tokarczuk darf sich seit letztem Jahr Literaturnobelpreisträgerin nennen, sie ist Polin und zählte, inzwischen längst etabliert, vor zwanzig Jahren zu den neuen, jungen, europäischen Autorinnen. Dass sie in ihrem konservativen Heimatland mitunter hart aneckt, wie grad mit ihrem neusten Roman »Die Jakobsbücher« versteht sich von selbst. Ich war schon lange neugierig auf die Bücher von Frau Tokarczuck, nur war mir nicht ganz klar, wie ich denn anfangen sollte. Der aktuelle Roman schien mir nicht allein der Seitenzahl wegen eine zu große Herausforderung, also wählte ich nach einigem Hin und Her »Ur und andere Zeiten«. Ein Roman, der bereits 1996 in Polen erschien, im Jahr 2000 erstmals auf Deutsch im Berlin Verlag und nun bei Kampa mit der Aufschrift ›Nobelpreis‹ dezent auf der Rückseite des Buchcovers. Ich beginne also die Lektüre und »Ur und andere Zeiten« brauchte etwa eine Seite, um mich in Verzückung zu versetzen.
Fange ich mit Inhalt und Form an: Wir befinden uns in dem fiktiven Dorf oder kleinem Städtchen Ur. Zwei Flüsse, eine Mühle, ein kleiner Hügel, Wäldchen und noch dies und das. Bewacht wird dieser Ort von vier Erzengeln und bewohnt von zum Teil sehr skurrilen Personen, die mir mit Sicherheit für einige Zeit im Gedächtnis bleiben werden: saufende Ehemänner und wilde Kerle, frustrierte Ehefrauen, die vor ihren Männern sterben, hoffnungsvolle Mädchen, ein verarmter Adliger, eine wilde Außenseiterin und so weiter fort. Alle Figuren werden in kurzen drei oder vierseitigen Kapiteln vorgestellt und ihre jeweiligen Geschichten, Sorgen, Kämpfe, Gefühle und Hoffnungen werden dann in Zyklen weitererzählt. Der Roman beginnt 1914 und endet wenige Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg. Ur liegt in und doch irgendwie außerhalb Polens, irgendwo im Weltall wie die Erzählerin gleich zu Beginn erklärt, seltsam entrückt von der realen Welt. Als ich die ersten Zeilen las, runzelte ich die Stirn: War das etwa Phantasy? Nein, das war es nicht, wurde mir schnell klar. Das, was erzählt wird, wirkt auf eine Art versetzt von dem, was wir Wirklichkeit nennen: Es kommen Engel vor, ein durchaus nicht souveräner Gott, die Kabbala spielt später eine Rolle und ich fühle mich eigentlich wie in einem Märchen. Dann aber sind mir Personen und ihre Schicksale nah, berühren mich, ziehen in eine ganz reale Sphäre. Magischer Realismus könnte man das vielleicht nennen. Die real-historischen Ereignisse finden durchaus auch in Ur statt und zeigen dort ihre Auswirkungen: die beiden Weltkriege, Judenverfolgung, Ende des Stalinismus. Allerdings werden diese wichtigen Ereignisse nur soweit erzählt, als dass sie direkte Wirkung auf die Bewohner und Bewohnerinnen von Ur haben. Man wähnt sich in einem Traum, der gleichzeitig sehr real ist.
Wenn man das so liest, möchten einem vielleicht doch Bedenken kommen: Polnische Zeitgeschichte gemischt mit Märchen und Mythen, das klingt nach einer sehr gewagten Mischung. Doch da gibt es die Zauberin Olga Tokarczuk, die es schafft, alles so zusammenzubauen, dass Leser und Leserin es vorkommt, als müsse diese Geschichte genau so erzählt werden. Mit all den Engeln, Wassergeistern, Waldschraten und merkwürdigen Dorfbewohnern. Diese Welt ist so fern und so nah zugleich: Ich fühle mit den Protagonisten, weine mit ihnen und sie begleiten mich, auch nachdem ich das Buch für eine Weile zugeklappt habe. Der Erzählton wird bis zum Ende des Romans durchgehalten, wird nie falsch, kein Abbrechen, kein Riss, alles hält bis zum berührenden Schluss. In meinen Augen ist das große Romankunst. Ich habe sehr lange Vergleichbares nicht mehr gelesen, bin begeistert und empfehle »Ur und andere Zeiten« von Olga Tokarczuk ohne Wenn und Aber.
Eine Zauberin: Das ist die richtige Beschreibung!
Ja liebe Birgit, dieses Buch hat mich tatsächlich verzückt und entrückt. Wollte fast die Jakobsbücher gleich hinterher lesen, aber hielt das dann doch für keine so gute Idee. Jetzt mal schauen, ob ich mit der Recherche weiterkomme, der dritte Band, Guermantes wäre dran. Müßiggang kann ja auch verzaubern. 😉