Epuli 2020, 188 S., ISBN: 9783750277472.
Autorin Safeta Obhodjas floh 1992 vor den ethnischen »Säuberungen« aus ihrer Heimat in Bosnien und Herzegowina und lebt heute in Wuppertal. Schon 1997 begann sie, auf Deutsch zu schreiben. Begonnen aber hatte alles in der Nähe von Sarajevo: Das Dilemma der Zugehörigkeit war und ist ihr großes literarisches Thema. Slawische Herkunft, muslimische Wurzeln, Frau Obhodjas weiß, wovon sie spricht und schreibt. Aufmerksam wurde ich auf die Autorin, als ich ihren Roman »Die Bauchtänzerin« von 2015 las. Dieser Roman spielt überwiegend in Bosnien, der aktuelle, ich erlaube mir, ihn kurz »Schwesternliebe« zu nennen, hat seinen Schauplatz in Deutschland und handelt von einer jungen Frau die sich aus einer muslimischen Großfamilie emanzipiert und von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Schauplätze, Herkünfte, Figuren ändern sich, das Thema bleibt der sogenannte »Culture Clash«.
Es geht um Meryam, eine junge Frau, die sich mit Hilfe ihrer Freundin Anne aus ihrer despotisch-muslimischen Großfamilie retten konnte. Dort hätte sie als Frau nie eine Chance gehabt, selbstbestimmt und -bewusst zu leben. Im Gegenteil: Um sie gefügig zu machen, wurde ihr ältester Bruder von der despotischen Mutter angestiftet, sie zu verprügeln. Meryam gelang es nach ihrem Entkommen, sich eine Existenz in einer Anwaltskanzlei aufzubauen. Ansonsten lebt sie in einer Art Fernbeziehung mit ihrem Freund, der in Afrika in einer Hilfsorganisation seine Erfüllung gefunden hat. Meryam Herkunftsfamilie, von der sie sich komplett emanzipiert zu haben glaubt, ist inzwischen in Auflösung begriffen: Tod, Krankheit, Knast, nur die jüngster Tochter Latifah bleibt übrig. Anne, Meryams frühere Schulfreundin, arbeitet im Sozialwesen und ist mit Latifahs Betreuung beauftragt. Anne nutzt ihre Möglichkeit, Meryam moralisch unter Druck zu setzen und Latifah, die von der antiquiert-traditionellen Lebensart ihrer Familie durchdrungen ist, bei der Freundin einziehen zu lassen. Latifah steht für Halal, das dem Muslim nach den islamischen Normen erlaubte Handeln, und ist gleichzeitig ein entwurzelter Teenager. Und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf.
Eine Menge Stoff also für nicht ganz 200 Seiten und so konzentriert sich die Autorin auch auf die Denkmuster und Handlungen Meryams. Alle anderen Figuren treten eher zurück, sind mehr oder weniger klischeehaft gezeichnet, am deutlichsten bemerkt man das bei ihrem »afrikanischen« Freund. Meryam selbst aber kommt mit Wucht daher. Ihre Wut, ihre Verzweiflung, als sie ahnt, dass sie mit der Betreuung Latifahs komplett überfordert sein wird, aber sich der Herausforderung nicht erwehren kann, sind eindrucksvoll geschildert. Meryams Überangepasstheit und gleichzeitige Radikalität im Denken, ihr Wunsch, auch einmal durchschnaufen, sich anlehnen zu können, dann wieder ihre aggressiven Ausbrüche: Manches, was die Heldin von sich gibt, ist fürchterlich und doch fühle ich als Leserin mit. Pädagogisch ist die Hauptfigur natürlich komplett überfordert und wie soll sie auch ihre junge Schwester, die aus der verhassten früheren Welt kommt, ein Vorbild sein? Und Anne, ihre sozial engagierte Freundin? Hier gewinnt man den Eindruck, dass sich jemand aus eigener Not einen schlanken Fuß macht: Ihr vollzogener Plan, Latifah an Meryam zu übergeben (stammen ja beide aus einem Topf), ist schlicht unverantwortlich, die Rolle von Meryams Freund kläglich.
»Schwesternliebe – eine Halal Seifenoper« kommt in einer schnörkellosen Sprache daher, sehr direkt und mit Wucht, nicht immer politisch korrekt und unverstellt in den Dialogen. Der Culture Clash spielt sich eben nicht nur außen, sondern vor allem in Meryam selbst ab. Manches was die Heldin von sich gibt, ist in seinem Zynismus ekelhaft, aber ihr verzweifelter Kampf ist gleichzeitig bewundernswert. Eine im besten Sinn vieldeutige Figur ist Safeta Obhodjas hier gelungen. Und am Schluss geht mir Meryam eine Zeitlang nicht aus dem Kopf, mag ich die Heldin sogar und dieses Buch auch.