Sorj Chalandon – Am Tag davor

dtv 2019, 320 S., ISBN 9783423281690. Aus dem Französischen von Brigitte Große. TB und E-Book sind noch lieferbar.

Fast stammte ich aus einer Bergarbeiterfamilie. Ich war ein Kleinkind, als es 1963 in Lengede zu einem schweren Grubenunglück kam, bei dem 29 Bergleute ihr Leben ließen. Mein Vater überlebte, aber seine geplante Karriere im Bergbau kam zu einem abrupten Ende. Elf Jahre später kamen bei einem Unglück in Liévin-Lens 42 Menschen ums Leben. Und dieses Unglück ist die Blaupause für „Am Tag davor“ des französischen Schriftstellers Sorj Chalandon. Für mich mit meinem speziellen familiären Hintergrund war das eine durchaus intensive Lektüre. Meines Vaters Erzählungen über diese Katastrophe gingen damals über Allgemeinplätze nicht hinaus und der Rest war Schweigen oder ein wenig Bergmann-Romantik. Hier nun dieser Roman über Profitsucht, Schuld und Rache. Ein Buch, das vor fünf Jahren in Deutschland sehr gut besprochen, zum Teil auch enthusiastisch gefeiert wurde.

Im äußersten Nordosten Frankreichs liebt und bewundert der junge Michel Flavent seinen älteren Bruder Joseph abgöttisch. Der Roman beginnt mit dem Bericht des Ich-Erzählers Michel, als dieser im Dezember 1974 mit seinem Bruder eine wilde Motorradfahrt unternimmt. Es ist der Vorabend des schrecklichen Unglücks. Joseph hätte nach dem Willen seines Vaters, der ein Bauer ist, niemals Bergmann werden sollen. Der Vater weiß um die Gefährlichkeit und ihm ist klar, dass der Bergbau in der Gegend keine Zukunft haben wird. Der Erzähler fährt fort, wie wenige Tage nach dem Unglück der große Bruder seinen schweren Verletzungen erliegt. Es wird aus der Welt der Bergmänner mit viel Respekt berichtet, aber auch mit Wut gegen Hierarchien und Profitsucht der Zeche, die diesen Unfall verschuldet haben. Der kleinere Bruder lebt nach dem Tod des Bruders traumatisiert weiter, geht nach Paris, wird Lastkraftwagenfahrer und heiratet Cécile. Seine Ehefrau gibt ihm Halt und trägt sein Trauma bewusst mit. Dann erkrankt Cécile an Krebs und nach einer Zeit der Pflege und vergeblichen Hoffnung stirbt sie. Michel ist wieder allein, ohne Halt und bricht von Paris aus auf, zurück an den Ort der Katastrophe seiner Jugend. Er will sich vor allem an dem Vorarbeiter rächen, der seiner Meinung die Vorschriften (u. a. geht es um mangelndes Belüften und Befeuchten des Schachtes, bevor die Bergleute an dem Tag anfuhren) im Auftrag der Betriebsleitung umgangen hatte. Dieses Versäumnis hatte zu der verheerenden Schlagwetterexplosion geführt.

Etwa die Hälfte des Buches ist an dieser Stelle gelesen und ich beginne zu zweifeln: Dieses Sinnen auf Rache ein halbes Leben nach dem Unglück, das Fehlen des Namens des Bruders auf der Gedenktafel, weil er erst Tage nach den Geschehnissen starb …. das ist doch sehr weit hergeholt, denke ich durchaus unzufrieden mit der Logik des Plots. Doch an dieser Stelle nimmt die Handlung eine erstaunliche Wendung, es wird eine ganz andere, erstaunliche Geschichte und die Thematik des Romans erweitert sich erheblich. Ein Weitererzählen verbietet sich an dieser Stelle und für alle zukünftigen Leserinnen und Leser der Ratschlag, Weiteres nicht in Erfahrung zu bringen, sondern gleich zum Roman zu greifen.

Ich habe „Am Tag davor“ sehr gern gelesen. Das Buch hat mich, auch wegen des in den ersten Zeilen meines Beitrags erwähnten familiären Zusammenhangs, berührt. Begriffe wie „schlagende Wetter“ oder das wunderbare „Hasenbrot“ (Reste der Brotzeit unter Tage, die der Bergmann nach der Schicht seinen Kindern gibt) sind mir nicht unbekannt. Die Übersetzerin Brigitte Große hat hier offensichtlich gute Arbeit geleistet. Die Sprache ist einfach, Empörung, Wut und Verzweiflung sind spürbar. Dieser sprachlich transportierte innere Aufruhr gegen die Verhältnisse hat mir sehr gut gefallen. Man könnte sagen, dass der Fortgang der Geschichte hier und da einige Längen aufweist, allerdings ist der Spannungsverlauf insgesamt großartig gelungen.

Das einzige, was mich tatsächlich gestört hat, ist, dass hier innerhalb eines realistischen Settings doch sehr viel mit Klischees und Sozialromantik gearbeitet wurde und manche Handlungsabläufe gegen Ende des Buches dann doch eher unwahrscheinlich wirken (ich darf ja nichts verraten). Ich meine, dass „Am Tag davor“ ein ausgesprochen lesenswertes Buch ist, das uns Leserinnen und Leser durchaus in Erstaunen zu setzen vermag, ohne dass es ganz frei von Schwächen wäre. Aber bitte selbst lesen und gerne widersprechen.

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