Aufbau, Berlin 2001 (Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17), 716 S., ISBN 3-351-03129-7.
»Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.«, zitiert aus einem Briefentwurf Fontanes an Adolf Hoffmann. An anderer Stelle: »Einerseits auf einem altmodischen märkischen Gut, andererseits in einem neumodischen gräflichen Hause (Berlin) treffen sich verschiedene Personen und sprechen da Gott und die Welt durch. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, und mit ihnen die Geschichte.« Mit diesen beiden Zitaten Fontanes aus dem Jahre 1897 wäre eigentlich alles über ›Der Stechlin‹, Theodor Fontanes letzten, 1898 posthum veröffentlichten Roman, gesagt. Doch geben wir uns ein klein wenig mehr Mühe.
Tatsächlich passiert im Stechlin in den beschriebenen sechs Monaten nicht eben viel. Die Hauptperson des Romans heißt Dubslav von Stechlin. Ein märkischer Junker, der sich durch Toleranz und Selbstironie auszeichnet. Er sieht die Veränderung seiner gewohnten und erinnerten Welt Ende des 19. Jahrhunderts mit einer gewissen Wehmut, aber auch einer ordentlichen Portion Abgeklärtheit. Auf seinem verarmten Gut am Stechlinsee bekommt er Besuch von seinem Sohn Woldemar. Woldemar von Stechlin wird anschließend nach England reisen und nach seiner Rückkehr in die Familie des ehemaligen Gesandten Graf Barby in Berlin einheiraten. Er wählt die eher blasse, verschlossen wirkende Armgard und nicht ihre funkelnde, selbstbewusste Schwester Melusine. Ja, es gibt so einige kontrastierende Paare in diesem Roman. Im Falle des Dubslav von Stechlin ist das seine Schwester Adelheid. Sie ist zehn Jahre älter als ihr Bruder, eine stolze, klassenbewusste Äbtissin, die für die Toleranz ihres Bruders nicht viel übrig hat. Diese Frau ist ein echter Brocken, Du meine Güte. Noch solch ein Paar: Der Pfarrer Lorenzen, gern gesehener Gesprächspartner des alten Stechlin und ehemaliger Lehrer des jungen Woldemar, der für eine aufgeklärte, soziale Haltung steht, und der eingebildete Superintendent Koseleger. Es gibt noch einiges mehr an Personal in diesem Roman, aber belassen wir es bei den genannten Personen.
Was die Handlung angeht, so wird Dubslav von Stechlin eher ungewollt als konservativer Kandidat aufgestellt und die Wahl gegen einen Sozialdemokraten verlieren, was er recht gelassen, fast erleichtert hinnimmt. Sehr rasch wird er gewahr, dass seine Kräfte schwinden, er wird krank und noch bevor Woldemar und Armgard von ihrer Hochzeitsreise zurückkommen, wird Dubslav von Stechlin tot sein.
In diesem Roman findet sich auffällig wenig Psychologie, dafür umso mehr Gespräche über das Neue, das Ende des Jahrhunderts sich Bahn bricht. Ausgesprochene Gedanken und Meinungen der handelnden Personen sind das, was diesen Zeitroman ausmachen. Auch der untere Stand kommt hier und da kurz zu Wort, aber wie das bei Fontane so ist, spielen dieser eher eine Nebenrolle. Dafür gibt es in Melusine eine kluge, selbstbestimmte Frau, die andere Kollegen Fontanes in ihren Romanen so nicht erschaffen haben. ›Der Stechlin‹ ist solch ein stoffreicher (auch der latente Antisemitismus ist eines der Themen) und dabei mit Genuss zu lesender Roman, dass es mit einer einmaligen Lektüre eigentlich nicht getan ist. Die Figuren sind bei allen fehlenden inneren Konflikten so markant, dass sie mich nach wenigen Zeilen packen. Ich habe Freude beim Lesen der Dialoge und interessiere mich für die Umbrüche dieser Zeit. Was will man von einem Klassiker mehr verlangen.
Am Schluß dieses kurzen Leseberichts möchte ich über Agnes reden. Agnes, das uneheliche Kind der Buschen, die kräuterkundig und eine Besprecherin ist, holt der alte Stechlin zu sich. Ihm, dem kränkelnden alten Mann, ist langweilig, er braucht Unterhaltung, junges Leben um sich. Dieses ganz andere Leben gefällt Agnes natürlich und bei der Beerdigung des Stechlins dann diese berührende Szene:
»Einen Augenblick später, als der wiederaufsteigende Stein die Gruftöffnung mit einem eigentümlichen Klappton schloß, hörte man von der Kirchentür her erst ein krampfhaftes Schluchzen und dann die Worte: ›Nu is allens ut; nu möt ick ook weg.‹ Es war Agnes. Man nahm das Kind von dem Schemel herunter, auf dem es stand, um es, unter Zuspruch der Nächststehenden, auf den Kirchhof hinauszuführen. Da schlich es noch eine Weile weinend zwischen den Gräbern hin und her und ging dann die Straße hinunter auf den Wald zu.«
S. 450 in dieser Ausgabe
Armgard, die mit ihrem Mann Woldemar inzwischen einig ist, das Gut weiterzuführen, möchte Agnes zu sich holen. Doch Woldemar belehrt sie, dass man solche Kinder im Gegensatz zur Pädagogenschablone sich selbst überlassen müsse. An Agnes muss ich noch lange nach der Lektüre denken.