Hanser 1993, dtv 2006, 383 Seiten, beide Ausgaben sind antiquarisch erhältlich.
1865 wird Wilhelm Raabes Erzählung »Else von der Tanne« veröffentlicht. Ein pessimistisches, ein wenig rührseliges Kunstwerk aus Raabes Übergangszeit zwischen Früh- und Spätwerk. Es handelt von einem armen Pastor in einem Dorf in der Nähe des Südharzes direkt nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Zwei Flüchtlinge aus Magdeburg, Vater und Tochter, erreichen den Ort. Else hilft dem Pfarrer aus einer tiefen Sinnkrise, doch sind nicht nur Land und Besitz der Menschen verwüstet, auch die Seelen der Menschen sind es. Auf grad 40 Seiten wird hier das, was Krieg aus Menschen macht, verhandelt. Vielleicht ein wenig kitschig hier und da, aber insgesamt doch ein kleines Meisterstück aus Raabes Frühzeit. So ohne Weiteres hätte ich die Erzählung nicht aus dem Regal geholt, aber nachdem ich gestern die Biographie über Wilhelm Raabe von Werner Fuld fertig gelesen hatte, war mir danach, dieser Empfehlung Fulds nachzugehen: ein Treffer.
Werner Fulds »Wilhelm Raabe. Eine Biographie« von 1993 hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, aber abgesehen vom exklusiven (und teuren) »Raabe Handbuch« bei J.B. Metzler von 2016 ist diese Biographie immer noch die beste Methode, um sich einen Überblick über Person, Umfeld und Werk Wilhelm Raabes zu verschaffen. Gegliedert ist die Biographie in neun Kapiteln, dazu einen Anhang mit einem Literaturverzeichnis, allgemein und zu einzelnen Werken, und einem Personenregister. Das Buch enthält reichlich Bildmaterial.
Ich darf sagen, dass die Biographie sehr gut lesbar ist und ihren Gegenstand angemessen behandelt: Es werden Themen wie Raabes Antisemitismus (Hungerpastor, aber auch im alltäglichen Umgang) und sein Frauenbild in seinem Werk (Pfisters Mühle!) und auch in seinem Privatleben ausführlich behandelt. Fuld zeigt, wie schon früh maßgebliche seelische Dispositionen Raabes (beginnende Schizophrenie; die Angst, verlacht zu werden) festgelegt wurden. Raabe, der 1831 in Eschershausen zur Welt kam und 1910 in Braunschweig starb, machte schon in der Kindheit die Erfahrung, was eine trügerische Idylle ist: Als der Rabe, welcher mit einem zahmen Fuchs über Jahre lustig spielte, getötet werden musste, macht sich jener Fuchs im Nu gnadenlos über seinen toten früheren Spielkameraden her. Diese vorgetäuschte Behaglichkeit wird ein zentrales Thema seiner besseren Romane, nur verkaufen ließ sich das nicht. Der junge Wilhelm sieht die Auswandererschiffe auf der Weser ziehen. Armut und politische Repressionen sind die Gründe, warum massenhaft die Menschen ihre Heimat verlassen mussten. Die Restauration hatte den Sieg des Volkes über Napoleon verraten. Noch ahnte Raabe nicht, dass der Auszug der deutschsprachigen Intelligenz für die Aufnahme seiner Romane schwerwiegende Folgen haben würde.
Nach alles andere als gradlinigem Verlauf von Raabes Findungsprozess wird er in Berlin schließlich seine Schriftstellerlaufbahn beginnen: »Die Chronik der Sperlingsgasse« entsteht. Dieses Frühwerk wir Raabe später als »Jugendquark« abtun. Aber neben »Der Hungerpastor« wird es auch die »Chronik« sein, die ihn zeitlebens finanziell über Wasser hält. Das vorwiegend weibliche Publikum verlangt sentimentale Geschichten und Humoresken. Raabe hat sie zu bedienen. Raabes Modernität mit ihrer Verweis- und Zitierkunst und den in ihrer Zeit so fremdelnden Romanfiguren verkaufte sich nicht. In den Spiegel, denen er Lesern und Leserinnen der Gründerzeit vorhielt, wollten diese nicht schauen. Dieser Fluch hielt weit bis ins zwanzigste Jahrhundert an. Raabe hatte Humorist zu sein, dafür wurde er ge- und verehrt. Und mit seinem »Hungerpastor« und den darin nicht abzustreitenden antijüdischen Tendenzen wurde er auch ein Autor der Nazis. Raabe konterte gegen den schon zu seiner Zeit bestehenden Vorwurf des Antisemitismus mit seinen Werken »Holunderblüte« und »Frau Salome«. Allein, das war nicht genug. Neuauflagen des »Hungerpastor« hätte er verhindern können, doch er tat es aus finanziellen Gründen nicht. So bleibt er für diesen Missbrauch durch Nationale und Rassisten ein stückweit selbst verantwortlich.
Bei der Lektüre dieser sehr nützlichen Biographie erfahren wir auch, dass Raabe, ein anfänglicher Bismarckverehrer, durchaus ein Sympathisant der Sozialdemokratie war (ohne diese freilich zu wählen) und sich gegen die Strafverfolgung Homosexueller aussprach. Raabe war ein außergewöhnlich ambivalenter Autor und Mensch. Und seine Romane? Seit einigen Jahrzehnten schätzen wir einen ganz anderen Wilhelm Raabe: den Autor von »Zum wilden Mann«, »Im alten Eisen«, »Stopfkuchen« oder natürlich »Die Akten des Vogelsangs«. Wir hören endlich Tucholskys, Thomas Manns und Arno Schmidts Stimmen, die Raabes wegweisende Modernität früh erkannten. Werner Fulds Wilhelm Raabe Biographie kann hierbei auch 27 Jahre nach ihrem Erscheinen ein guter Wegweiser sein.
Anmerkungen:
Bonaventura über dieses Buch: hier
Das erwähnte Raabe Handbuch: hier
Hm. Das macht ihn mir nun wieder interessant. Also nix mit Wohlstand? Nur eine Geradeso-Existenz? Dann ist nicht verwunderlich, dass er den Hungerpastor weiterlaufen lässt. Auschwitz konnte er ja nicht ahnen.
Ich bin an der „Sperlingsgasse“ und am „Abu Telfan“ nach jeweils nur ein paar Seiten gescheitert. Das fand ich beides richtig öde. – mit ende 20 anfang 30. „Des Reiches Krone“ dagegen fand ich mit 17 und 27 gutlesbar. Aber Zeiten ändern sich. Merk ich ja bei meinen Heysestudien. Wenn man da Sekundärliteratur auffindet, wird auch deutlich, dass Klemperer 1907 ganz andere Novellen als Meisterwerk hochjubelt als ich 2020.
Nein, kein Wohlstand, not at all. Für Raabe war das ein Kämpfen ums Überleben mit den Mitteln der Schriftstellerei (habe da immer an Arno Schmidt denken müssen). Und ja, diese Existenzsorgen waren sicher mit ein Grund, dass er den Hungerpastor nicht gestoppt hat. Er war ja auch längst eine Art deutsches Volksbuch geworden. Nein, Auschwitz konnte er gewiß nicht ahnen. Mit dem Ressentiments gegenüber Juden lag er im Mainstream, nicht mehr, nicht weniger. Das Raabebild war dann allerdings über fast 100 Jahre entsprechend. Erst in neuerer Zeit wurde endlich die Modernität in Raabes Spätwerk entdeckt.
Interessant für Dich: Einer seiner Konkurrenten war der von Dir so geschätzte Spielhagen. Ein Verschwinden des Dichters hinter den Romanfiguren, wie Spielhagen es vehement forderte, war mit Raabe nicht zu machen. Im Vergleich zu Raabe verdiente Spielhagen ein Vielfaches mit seinen Romanen.
Für Dich empfohlen: »Zum wilden Mann«, »Die Innerste« (beides in den »Krähenfelder Geschichten«) oder gleich den »Stopfkuchen«.
Dank und Gruß,
Lena
Danke für die Tipps. Da kümmere ich mich bestimmt – ist ja MEIN 19.Jhd. Aber erst muss ich noch durch ein bissl Heyse durch. Das ist derzeit Sucht bei mir. Ich frage mich, wie ein Volk so blöd sein kann, dass es diese Stoffe, dieser großen Romane brach liegen lässt, anstatt sie zu verfilmen, wie das das traditionsbewusste England tut.
Schaue grade mit wachsender Begeisterung „Downton Abbey“ und denk bei jeder Folge: So könnten Spielhagenverfilmungen aussehen. Es muss doch nicht immer nur Nazi- oder Stasi-Scheiß auf Celluloid!
Danke für Deinen Kommentar. JAA! Verfilmungen! genau diese von Dir genannten Autoren (Raabe jetzt weniger) schreien danach, ich gebe Dir vollkommen recht. Ein Jammer …