Wallstein Verlag 2024, hg. und kommentiert von Rolf Parr, 236 S., ISBN 978-3-8353-5753-2
Der Wallstein Verlag hat den zweiten Band seiner Neuedition maßgeblicher Werke Wilhelm Raabes veröffentlicht. Es wurde nicht wie ursprünglich geplant ›Der Lar‹, sondern ›Unruhige Gäste – Ein Roman aus dem Säkulum‹. Der Roman gehört zu Raabes Spätwerk, welches für die heutige Leserschaft immer noch von Interesse ist. In dem Buch umfasst die Erzählung 179 Seiten. Es folgen editorische Notizen, 16 Seiten Anmerkungen, ein gut 20-seitiges Nachwort des Herausgebers Rolf Parr, Siglen, Literaturverzeichnis und Abbildungsnachweise der 6 Abbildungen im Anhang. Auf dem Schutzumschlag erkennt man zwei stattliche Gebäude vor einem Berghang, die ich anhand eines Bildes im Anhang als Kurhaus und Actienhôtel in Bad Harzburg auf einem Postkartenmotiv von 1908 identifizieren kann. Heimspiel.
Ich habe so einige Wochen meiner Kindheit in Bad Harzburg im Ortsteil Bündheim bei der Großmutter verbracht. Da stand das 1874 eröffnete Actienhôtel noch, hieß Harzburger Hof und war immer noch ein Prunkhotel der oberen Klasse. Das Hotel wurde nach mehreren Bränden und einem Dasein als ›Lost Place‹ 2017 abgerissen. Raabe lässt einen guten Teil dieses Romans um dieses Hotel und dem neu entstehenden Kur-Tourismus spielen. Weiter oben auf dem Berg, nahe einem ärmlichen Dorf steht eine Wiesenhütte und hier hebt der Roman an und wir treffen auf einen großen Teil der handelnden Personen. Die ärmliche Hütte bewohnt Volker Fuchs, ein ehemaliger Zuchthäusler mit seinen Kindern. Fuchs weigert sich, die Leiche seiner an Typhus gestorbenen Frau Anna herauszugeben. Er will nicht, dass sie auf den Friedhof der Dorfgemeinschaft beerdigt wird, die ihn und seine Familie hierin verbannt haben. Das Dorf nennt ihn den ›Räkel‹, seine Frau die ›Feh‹ und seine Kinder ›Brut‹. Die Leiche wird vom Räkel mit Wort, Gewehr und Axt verteidigt. Grad als eine Touristengruppe aus der Stadt diesen Ort betritt, die romantische Indianerhütte bewundert und nach der Warnung, dass dies ein Seuchenhaus sei, sich rasch und empört verflüchtigt, betritt Dr. Veit Bielow die Szenerie. Er ist Professor der Staatswissenschaften, ein weit gereister, eloquenter Herr, der auf dem Weg zu seinem früheren Studienfreund Pastor Prudens Hahnemeyer ist. Dieser dient der Dorfgemeinschaft als Pfarrer. Dr. Bielow beobachtet, wie aus der verwahrlosten Hütte eine junge Frau kommt. Es ist Phöbe Hahnemeyer, Schwester des Dorfpfarrers. Furchtlos, aber ohne Erfolg hat sie versucht, den Fuchs zu überzeugen, seine Frau nach Art eines Christenmenschen beerdigen zu lassen. Bielow quartiert sich für kurze Zeit in dem nicht grad komfortablen Pfarrhaus ein. Er ist von Phoebe fasziniert. Diese scheinbar so schüchterne, ihrem Bruder dienstbare Phöbe strahlt eine seltsame Ruhe, Unerschrockenheit und Stärke aus. Sie wird von ihrem älteren Bruder oft ›Kind‹ genannt (so müssen bei Raabe ja immer irgendwelche Männer, meist junge Ehemänner, ihre Frauen anreden), scheint ihm aber mental weit überlegen. Phöbe Hahnemeyer ist für mich die interessanteste Figur in dem Roman. Sie ist eine Frau, deren Lebensaufgabe es ist, sich um andere Menschen zu kümmern. Bevor sie ihren Bruder unterstützte, war sie Schulschwester in einer Anstalt für geistige Behinderte in Halah, Schmerzhausen wie Raabe übersetzt.
Einige Zeit später versuchen Bielow und Phöbe noch einmal gemeinsam, den wilden Fuchs zu überzeugen. Spontan fällt Bielow folgender Vorschlag ein:
»Hat die Anna Fuchs in ihrer letzten Stunde gerufen, daß sie nicht zwischen ihren Feinden liegen möge, so wird sie nichts dagegen einzuwenden haben, allein gebettet zu werden mit einem freien Platz zur Rechten und zur Linken, wenn nicht für ihren Mann, den Räkel, und ihre Jungen, so für ihre Freunde – die Phöbe Hahnemeyer und den Veit von Bielow zum Beispiel!«
Eine plötzliche Eingebung, quasi aus dem Nichts, die Erfolg hat. Volker Fuchs ist einverstanden, zögerlich und erschrocken, im Bewusstsein mit dem Versprechen eine Sünde zu begehen, willigt auch Phoebe ein. Wir haben gut ein Drittel des Romans gelesen und hier soll nun mit dem Nacherzählen Schluss sein. Wer sofort wissen will, wie es ausgeht, dem bleibt Wikipedia oder viel besser: Das Buch!
Es treten noch weitere bemerkenswerte Personen auf: Meister Spörenwagen, ein Tischler und Gentleman-Socialist mit einer besonderen Beziehung zu der Verstorbenen. Die selbstbewusste Valerie, eine Tochter aus gutem Haus von unten aus dem Kurhotel, die allen Grund hat, sich einzumischen. Sie nennt Phöbe auch einmal Kind und bekommt eine strenge Abfuhr. Der Doktor Hanff, ein Scharnier zwischen armer Dorfgesellschaft und vermögenden Kurgästen. Und dann taucht zu meiner großen Überraschung und noch größeren Freude Frau Dorette Kristeller aus ›Zum wilden Mann‹ wieder auf.
Ich bin keine Expertin und will mich auf die vielen Lesarten des Romans nicht einlassen. Auffällig viele Paare und Gegensatzpaare bilden sich in diesem Text, das geht aus dem bis hierhin geschrieben vielleicht schon hervor. Das gilt auch für die Orte. Oben die Hütte der Ausgestoßenen, die Dorfgesellschaft, das ärmliche Pfarrhaus, unten die begüterten Kurtouristen, die unruhigen Gäste. Oben das traditionelle Leben, unten die neue Zeit, der Kommerz, die Spekulation, das Säkulum, doch die Grenzen sind auch durchlässig.
Der Roman ist mit auffällig vielen Bibelzitaten versehen, was wiederum viele Interpretationen nach sich gezogen hat. Phöbe, die neutestamentarische Gemeindefrau oder doch die altgriechische Helle und Leuchtende? Schon bei der ersten Lektüre (es wird nicht meine letzte sein) spüre ich die vielen Böden, die unter diesem Text gezogen sind. Nicht alles muss ergründet werden, aber der Roman wirkt so sehr lebendig und komplex.
Raabe hatte zu Lebzeiten wie bei fast allen seinen späteren Werken keinen großen Erfolg. Zu anspruchsvoll der Text und ohne ein glückliches Ende. Den Schluss nach Publikumsgeschmack zu ändern, hatte Raabe abgelehnt. Der Text wurde zuerst 1885 in Fortsetzung in ›Die Gartenlaube‹ und ein Jahr später bei Grote in Buchform veröffentlicht. Diese Edition nimmt sich die Buchveröffentlichung als Textgrundlage. Auf orthografische Modernisierung und Vereinheitlichung wurde verzichtet.
Die Anmerkungen dieser Edition sind in Inhalt und Menge sinnvoll und hilfreich. Was das Nachwort betrifft, so hätte ich mir vielleicht weniger eine Präsentation der bisherigen Rezeptionen und Interpretationen gewünscht, als vielmehr eine Einführung für uns Leserinnen und Leser, die nicht Germanistik studiert haben. Das wäre aber mein einziger, kleiner Kritikpunkt. Eine schöne Ausgabe und ein Roman, der nun zu meinen Best-of-Raabe gehört.
Wieder eine exzellent geschriebene Rezension, die Lust auf Lesen macht. (Wobei ich zugebe ich nicht traurig bin, dass die Raabes keine 800-Seiten-Bücher sind…)
Vielen Dank liebe Freundin. Das freut mich. Ist ein toller Roman, in dem viel steckt. Ansonsten hätte ich knapp 400 Seiten zu bieten: Der Schüdderump, liest sich auch locker weg. 😉
Oh. Ein weiterer Raabe! Liest sich wieder sehr interessant hier.
Das Beerdigungsproblem finde ich ja spontan toll.
Nur leider wirds der Meister Raabe vermutlich in der Ausgestaltung wieder vergurken. Befürchte ich. Habe neulich die „Gänse von Bützow“ versucht – und aufgegeben.
Das hier die Kristeller wieder auftaucht, das bringt mich drauf, dass das doch auch mir schon mal bei Raabe auffiel, dass er da „den Jim Jarmusch macht“. Ich glaube im „Wilden Mann“ war so eine Stelle, die Bezug nahm auf „Die Leute aus dem Wald“ ohne den Buchtitel zu benennen. (Irgendwie so ein Hinweis zwischen Henkerssohn und dem guten Kommissar, oder so.)
Außerdem scheint mir Storms „Doppelgänger“ hier hineinzuleuchten. Auch Zuchthäußler, aber treusorgender Familienvater. Wer war eher dran?
Und falls da irgendwelche Anspielungen auf bornierte Kurgäste mit eingebildeten Wehwechen stattfinden sollten, dann bestünde noch ein Bezug zu Heyses „Unheilbar“.
Alles in allem bleibt das Metier interessant.
Tja. Bei Raabes Realismus und Auswahl des Plots bist ja noch dabei (und der Plot ist auch hier sehr interessant), doch dann kommt die Poetik dazu und Du wendest dich mit Grausen ab. Was mir das Salz in der Suppe, heißt mir dir »verdorben!«. So gesehen, würde ich dir hier zur Lektüre abraten. Hilft nix.
Vielen Dank für deinen Kommentar, ich freue mich jedesmal sehr.
PS: Dass ich ›Die Gänse von Bützow‹ klasse fand, muß ich hier ja nicht erwähnen. 😉