Wieser 2020, 380 S., ISBN: 978-3-99029-438-3, aus dem Tschechischen von Raija Hauck.
Alena Mornštajnová ist eine tschechische Schriftstellerin, Jahrgang 1963, die mit ihrem dritten Roman »Hana« einen immensen Erfolg hatte und immer noch hat. Seit dessen Erscheinen 2017 in Tschechien ist sie in ihrer Heimat sehr bekannt und wurde für »Hana« mit dem tschechischen Buchpreis ausgezeichnet. Inzwischen wurde ihr Bestseller in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Dieser Roman spielt zu Beginn in einer kleinen Stadt in Mähren im Jahre 1954 und deckt im weiteren Verlauf einen Zeitraum von den 1930er Jahren bis Anfang der 1960er Jahre ab. Die Erzählerinnen ist am Anfang des Romans Mira, die eigentliche Heldin aber ist die seltsame Tante Hana. Es geht in diesem Buch um jüdisches Leben und dessen Auslöschung in einem Ort in der Tschechoslowakei, über eine Epidemie, über Familienkonstellationen über vier Generationen, über Schicksal und Zufall, Verzweiflung, Mut und Lebenswillen. Einer der außergewöhnlichsten Romane, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Wende ich mich dem Inhalt zu: Wir sind in der Kleinstadt Meziříči in Mähren. Mira ist nicht folgsam gewesen, hat verbotenerweise auf dem Eis des nahen Flusses gespielt und bekommt deshalb auf der Geburtstagsfeier ihrer Mutter keines der leckeren Törtchen ab. Es folgen eine für die Zeitgenossen unerklärliche Epidemie (Typhus), Quarantänemaßnahmen und Durchsagen von Todesfällen über Lautsprecher. Am Ende ist Mira neun Jahre alt und Vollwaise. Nicht von dem Törtchen gegessen zu haben, rettet ihr das Leben. Nach ein paar Umwegen landet sie schließlich bei ihrer äußerst skurrilen Tante Hana. Ganz in schwarz gekleidet, graue Haare mit kahlen Stellen, keine Zähne, spindeldürr und ausschließlich Brot essend. Hana spricht so gut wie nie und zeigt äußerst merkwürdige Verhaltensweisen. Hier kommt Mira unter. Keine Verbote mehr, denn die Tante spricht ja nicht, aber es gilt, sich an einige Sonderbarkeiten zu gewöhnen.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Der erste gehört Mira, die auch die Erzählerin ist. Zehn Jahre begleiten wir sie. Im zweiten Teil fahren wir in der Zeitmaschine 20 Jahre zurück. Die Kindheit und Jugend von Hana, ihrer Schwester Rosa, Miras Mutter, und deren Mutter Elsa. Sie versuchen, in den Wirren ab Mitte der 1930er zurechtzukommen. Ab 1938 wird das Leben für die Familie in der kleinen Stadt Meziříči immer bedrohlicher, denn die Familie ist jüdisch und die einheimische Bevölkerung wendet sich in großen Teilen gegen sie. Jüdisch sein ist ein Umstand, die für diese Generation (im Gegensatz zu der der Großeltern von Rosa und Hana) im Alltag kaum eine Rolle gespielt hatte. Doch jetzt ist jüdisch sein lebensgefährlich. Der zweite Teil endet mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Meziříči. Im abschließenden dritten Teil kommt nun vor allem Hana zu Wort. Sie erzählt ihre Geschichte: Erzählt wird von 1942 aus dem Konzentrationslager bis zu ihrer Rückkehr in die Kleinstadt. Viele Fäden vom Anfang des Romans werden erneut aufgenommen. Der dritte Teil endet 1963.
Es lässt sich erkennen, dass hier durch ständige, aber niemals verwirrende, Zeit- und Perspektivsprünge Dinge erklärt und sichtbar gemacht werden. Doch nicht nur das: Auch zeigt sich die Autorin Alena Mornštajnová als Meisterin des Weglassens. Der Roman konzentriert sich auf das, was erzählt werden soll. So wird zum Beispiel der Schock von Mira über den Verlust der Eltern kaum thematisiert. Die Geschichte erhält so ein mitreißendes Tempo: Das Buch ist in hohem Grade spannend. Diese Mischung aus Zeitgeschichte, herzzerreißendem Leid und dem Mut, der zart zu wachsen beginnt, aus Betroffenheit, Ironie und Spannung ist es, der dieses Buch so besonders macht. Männer kommen darin übrigens auch vor, durchaus nicht nur als Ausstattung, nur sind die tragenden Figuren in »Hana« Frauen.
»Den Menschen, die ich liebe und die mich lieben, bringe ich Unglück.«, so spricht auf Seite 327 Hana, die alles überragende Hauptfigur des Romans. Der schwarze Vogel, der über der Familie kreist, Hiob, ein tragischer Unglücksrabe, dessen nur allzumenschlichen Taten fürchterliche Folgen haben. Dabei wollte Hana nur leben und lieben. So schnell wird mir diese Figur nicht mehr aus dem Kopf gehen, auch lange nachdem ich dieses großartige Buch aus der Hand gelegt habe.