S. Fischer Verlag, 2008, 2013, ISBN 9783100155542, 416 Seiten, als Taschenbuch und E-Book erhältlich
1939 erscheint der erste Druck von »November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918«. Das Erzählwerk wird am Schluss vier Bücher umfassen, da der zweite Teil in zwei Teilbänden aufgeteilt ist. Deshalb werde ich hier trotz des Titels von einer Tetralogie sprechen. Seinen Abschluß wird »November 1918« mit »Karl und Rosa« 1943 finden. Auf den Erstdruck in deutscher Sprache wird dieser letzte Teil bis 1950 warten müssen. 1939 befindet sich Alfred Döblin, der 1878 als Sohn assimilierte Juden in Stettin geboren wurde, mit seiner Familie im Exil in Paris, ein Jahr später wird er nach den USA auswandern müssen, da der Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich bevorsteht. Döblin ist Sozialist (oder liberaler Linker, aber eigentlich lässt er sich kaum verorten, sitzt immer zwischen den Stühlen) und jüdischer Abstammung. In Deutschland werden seine Bücher verbrannt. Er hat neben zahlreichen anderen Werken bereits »Die drei Sprünge des Wang-Lun«, »Wallenstein«, »Berlin Alexanderplatz«, die Amazonas-Trilogie oder »Pardon wird nicht gegeben« veröffentlicht. Weltberühmt wird er mit »Berlin Alexanderplatz«. Seine Tetralogie über die Ereignisse der Novemberrevolution von 1918, an der er im Exil sechs Jahre von 1937 bis 1943 schrieb und die am Schluss fast zweitausend Buchseiten füllen wird, wurde lange Zeit vernachlässigt. Vollkommen zu Unrecht.
Der erste Band von »November 1918. Eine deutsche Revolution.« ist betitelt »Bürger und Soldaten«. Die Handlung beginnt am 10. November 1918 und endet am 24. des gleichen Monats (die Tetralogie insgesamt wird bis zum 15. Januar 1919 erzählen). Wir befinden uns zu Beginn des Romans in einem elsässischen Lazarett bei Straßburg, »wo man um diese Zeit ruhig weiter lebt und stirbt«. Die deutsche Niederlage und das erwartete Eintreffen der Franzosen interessieren mehr als Soldatenratssitzungen und revoltierende Soldaten. Die Szenerien zu Beginn: das Lazarett und die Ereignisse in Straßburg. Und auch die handelnden Personen wechseln beständig: Döblin legt ein weites gesellschaftliches Panorama an. Wir hören von Barbara, dem Straßburger Dienstmädchen, das unverhofft in den revolutionären Strudel gerissen wird (sie ist meine persönliche Lieblingsfigur), dem Chefarzt des Lazaretts, der eine fatale Entscheidung trifft, wir treffen auf vor revoltierenden Soldaten flüchtende Offiziere, revoltierende elsässische Matrosen, den französischen Präsidenten, einen nationalistischen französischen Schriftsteller, fahnenflüchtige deutsche Soldaten in den Ardennen und noch vielem anderen Personal. Privates Glück und Unglück im Hintergrund des zu Ende gehenden Krieges. Die Figuren sind mal fiktiv, mal historisch verbürgte Persönlichkeit. Auch die späteren Hauptpersonen der Tetralogie haben ihre ersten Auftritte: Der einstige Altphilologe und nun schwer verwundete Oberleutnant Friedrich Becker. Schwer traumatisiert versucht er sich intellektuell und mit Hilfe von Religion aus dem Sumpf seiner schweren Depression zu ziehen. Als das Lazarett sich auflöst, wird er auf der Zugfahrt von seinem Lazarettkameraden Leutnant Maus begleitet, der ihm ein begangenes Verbrechen beichtet. Und die Operationsschwester Hilde, die im Leben beider Männer eine bedeutende Rolle spielt. Gegen Schluß des Buches wird der bedeutende Dramatiker Erwin Stauffer als Literatenfigur in unruhigen Zeiten eingeführt. Die Handlung des ersten Teil des ersten Bandes endet mit der Zugfahrt des sich auflösenden Lazaretts nach Deutschland und dem Tod des ehemaligen Chefarztes.
Dieses Buch ist in zwei etwa gleich lange Hälften mit je zwölf und achtzehn Kapitel aufgeteilt. Der Ton zu Beginn des zweiten Teil ist nun plötzlich ganz ein anderer: Döblin referiert ausführlich und sachlich in einer Art Rückblende den militärischen Zusammenbruch des Deutschen Reichs. Und hinter diesem nüchternen Ausdruck kommt der ganze Horror des Krieges zum Vorschein. Beindruckend und berührend. In der eigentlich Romanhandlung kehren ein Teil der Hauptfiguren nach Berlin zurück, Die Altdeutschen müssen Straßburg verlassen, die Revolution dort ist damit beendet, der Bürgermeister jetzt ein Franzose. Die Revolution selbst scheint im allgemeinen Chaos unterzugehen, denn ihr gelingt es nicht, den Rückhalt in der Geselschaft zu erreichen. Und konservative Kräfte mit ihren Korps haben sich bereits in Stellung gebracht.
Grad dieser erste Band wirkte politisch äußerst brisant und passierte 1945 nicht die Zensur der französischen Besatzungsmacht. Zu heikel grad diese Sache ums Elsass. Da half es auch nicht das Döblin, der bereits 1936 die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, inzwischen als Zensuroffizier auftrat: Band 2-4 der Tetralogie wurden separat, ohne den ersten Band 1948 – 1950 verlegt. Der erste Band für sich wurde das erste Mal 1939 veröffentlicht. Es war schon Krieg und so blieb die Aufmerksamkeit für dieses Werk gering. Kurz darauf musste Döblin Europa verlassen und in die USA emigrieren, erst 1945 kehrte er nach Europa zurück.
Literarisch ist dieser erste Band der »November 1918« Tetralogie ein großer Wurf. Döblin befindet sich mit seiner Kunst der Montage auf einem Höhepunkt und wie in einem Film wandert die Aufmerksamkeit von Szene zu Szene. Der Roman ist spannend, berührend und hält Leser und Leserinnen in Atem. Döblin gelingt ein breiter Rundumblick der Geschehnisse am Ende des Ersten Weltkrieges mit seiner gescheiterten Revolution. Die Ereignisse und ein Teil des Personals sind historisch verbrieft, fiktive private Geschehnisse und Personen halten die Handlung lebendig. Die Figuren sind lebensecht gezeichnet, man glaubt ihnen. »Bürger und Soldaten« ist lehrreich und ein großes Lesevergnügen.
Welche Ausgabe? Döblin hat zeitlebens um die öffentliche Präsenz seiner Werke kämpfen müssen. Heute sind wir besser dran. Der Fischer Verlag präsentiert in seinem Programm so gut wie alles von Döblin in verschiedenen Formaten. Die Hardcover Ausgabe von 2008 ist sicherlich die schönste aller aktuellen Ausgaben. Das Taschenbuch und die E-Book Ausgabe von 2013 beinhalten ein ausführliches und informatives Nachwort von Helmuth Kiesel. Das Nachwort der gebunden Ausgabe von Gabriele Sander kann sich damit nicht messen. Man hat also die Wahl der Qual.
Hierzu passend und als Schluß darf ich eine kleine Anekdote anfügen: Vor einigen Wochen machte ich den Fischer Verlag darauf aufmerksam, dass in der E-Book Ausgabe ein größeres Kapitel von »Bürger und Soldaten« fehlte. Der Verlag reagierte umgehend, reparierte die Ausgabe sofort und bedankte sich ausgiebig bei mir. Als Geschenk bekam ich die E-Book Ausgaben der Bände 2 – 4 von »November 1918« per Mail zugesandt. So muß ich mich nicht entscheiden und besitze die gebundene Ausgabe von 2008 und die aktuelle E-Book Ausgabe von 2013.
Anmerkung:
Für Döblin Liebhaber verweise ich gern auf den Blog von »Lector in fabula«. Dort ist Großes in Planung!