Suhrkamp 2006, 216 S. Mit einem Nachwort von Dietmar Dath, ISBN: 3-518-22410-7.
Dieser Roman von 1957 ist der letzte aus Arno Schmidts Frühwerk, in der Chronologie der Romane zwischen ›Das steinerne Herz› von 1956 und ›Kaff auch Mare Crisium‹ von 1960 platziert. Wir schreiben in ›Die Gelehrtenrepublik‹ das Jahr 2008, Europa ist durch einen Atomkrieg verwüstet, Deutschland ist nicht mehr existent. Der Reporter und Erzähler Charles Henry Winer besucht mit Genehmigung der Großmächte zwei außerordentlich interessante Orte: Den »Hominidenstreifen«, einen Landstrich in der westlichen USA, der von durch Strahlenfolgen willkürlich entstandenen Mutationen bevölkert wird, und danach die Gelehrtenrepublik, eine in den Roßbreiten des Atlantiks schwimmende künstliche Insel. Hier wohnen ausgewählte Künstler und Wissenschaftler aus beiden Blöcken (Ost und West). Offiziell wird die Insel »International Republic for Artists and Scientists«, kurz »IRAS«, genannt. Wir folgen in diesem 200-seitigen Roman dem Bericht des Ich-Erzählers. Doch Arno Schmidt wäre nicht Arno Schmidt, wenn es hierbei nicht einige Kniffe gäbe.
Zunächst: Wir lesen nicht den in amerikanischer Sprache verfassten Originalbericht des Journalisten Winer, sondern die Übersetzung dieses heiklen Berichts in eine tote Sprache: Ins Deutsche. Dies war staatlich verordnete Bedingung für die Veröffentlichung. Übersetzer ist der ehemalige Studiendirektor Chr. M. Stadion (Anagramm aus Arno Schmidt. Und Winer ist der Namen eines real existierenden Großneffen von Schmidt). Der Spießer Stadion spart im Text nicht mit mäkelnden Fußnoten und weiß vieles besser, aber offensichtlich nicht immer, was in dem Bericht vor sich geht.
Im ersten Teil befinden wir uns in einem Landstrich, der unter anderem von Zentauren und Riesenspinnen (Nevers-Nevers) bevölkert wird. Mutationen, die ungeplant durch Strahlung entstanden sind. In diesem ersten Abenteuer wird sich »Thalja«, eine attraktive und durchsetzungsstarke Zentaurin, in Winer verlieben. Dieser wird ein Fohlen (sagt man so bei Zentauren?) mittels Schnaps vor dem sicheren Tod durch das Gift der fiesen »Nevers-Nevers« retten und gemeinsam mit den Zentauren eine Vernichtungsaktion gegen die Spinnenbrut mit Menschenköpfen durchführen.
Auf »Iras« angekommen weicht die anfängliche Euphorie, eine Insel der Gelehrsamkeit besuchen zu dürfen, der nüchternen Realität: Der Ost-West-Konflikt wird hier schlicht auf einer anderen Ebenen weitergeführt. Kultur verkommt zur Fassade und auf beiden Seiten werden die grusligsten Experimente mit Mensch-Tier-Transformation unternommen. Vom Elysium bleibt nicht einmal die Illusion und als die riesige Metallinsel schließlich zu rotieren beginnt, weil die Ost- und Westfraktion jeweils entgegengesetzt steuern, flieht Winer.
Schmidt schreibt mit diesem Roman eine Satire, die ohne Zweifel den Kalten Krieg zum Thema hat, aber auch die Darmstädter Künstlerkolonie (der Autor lebt in dieser Zeit in Darmstadt) und die lähmende Rückwärtsgewandtheit der Adenauerzeit. Es gibt unzählige Verweise auf politische Themen, Schriftsteller, Künstler und Arno Schmidts persönlicher Situation und Übersetzertätigkeit. Man muss das nicht alles Dechiffrieren, um die Handlung zu verstehen, aber ein wenig Ahnung vom Deutschland der 1950er Jahre und der allgemeinen politischen Situation wären zum Verständnis hilfreich.
Hat mir der Roman gefallen? Nun, an meine Lieblinge ›Das steinerne Herz‹ und ›Kaff auch Mare Crisum‹ reicht er nicht heran. So reizend der erste Teil mit Winers gewagten Liebesaffäre mit der schönen Zentaurin ist, wird es mir mit den grotesken Einfällen auf »Iras« doch ein wenig zu viel und ich verliere lesend den Faden. Und ja, ich gebe zu: Die Erzählungen Schmidts, die mich immer auch ein wenig zurück in die Welt meiner Kindheit transportieren, mag ich einfach lieber. Sprachlich bedient sich Schmidt hier seiner Rastertechnik: Kurze aufeinanderfolgende Prosaabschnitte, so wie man das bereits von ›Das steinerne Herz‹ kennt. Von ›Zettels Traum‹ ist man noch weit entfernt. Leseempfehlung? Ganz sicher und manchem wird ›Die Gelehrtenrepublik‹ vielleicht grad aufgrund der vielen skurrilen Einfälle zum Lieblings-Schmidt.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass es bei ›p.machinery‹ eine sehr edle und nicht ganz billige Ausgabe mit Illustration von Thomas Franke gibt. Neugierige mögen die Google Maschine betätigen. Zumindest antiquarisch gibt es die gebundene Ausgabe (Suhrkamp) und das Taschenbuch (Fischer) preiswert und ohne Probleme zu haben.
Eine interessante Rezension. Vielen Dank dafür.
Die Gelehrtenrepublik gilt allgemein als weniger beliebt als das Steinerne Herz oder Kaff. Ich gehe da mit der Mehrheit.
Am häufigsten jedoch greife ich auch nach Jahrzehnten noch zu der kleinen Prosa, den Kurzgeschichten und Skizzen, die ich immer wieder faszinierend finde.
Gruss Robert
Vielen Dank Robert!
Das mit der Vorliebe für die kleine Prosa kann ich gut verstehen, geht mir auch oft so. Grad bei Lust auf Schmidt „mal für zwischendurch“.
Ich kenne auch Leser, bei denen die Gelehrtenrepublik zu den Top-Five gehört. Bei mir ist das nicht ganz so. Obwohl die ersten fünf – das wird sich vielleicht noch knapp ausgehen. 😉
Ich habe übrigens eben erfahren, dass ›Die Gelehrtenrepublik‹ sein Bestseller war. Erstaunlich, oder?
Von den frühen Werken hat das Steinerne Herz (1954) zwei Auflagen erreicht. Das nächste Buch war „Der Triton mit dem Sonnenschirm“ (1966), das zwei Auflagen erlebt hat. Und die Typoskripte später auch.
Alles andere, und wir sprechen von den Erstausgaben, hat sich nur mühsam verkauft. Von der EA des Leviathan (1949) hat man in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre noch Exemplare der EA kaufen können.
Gibt es eine Quelle für die Gelehrtenrepublik als Bestseller? Villeicht hat der Titel sich am schnellsten abverkauft.
Wird ein wenig dauern, bis ich die exakte Antwort habe. Ein wenig Geduld, aber ich vergesse es nicht.
Nur keine Panik…
Im von Susanne Fischer herausgegebenen Reclambändchen „AS zum Vergnügen“ steht im Vorwort (S. 15): „Dieser groteske Roman hat inzwischen zahlreiche Auflagen erlebt und ist Arno Schmidts erfolgreichstes Buch.“
Aaah! Da steht das! Vielen herzlichen Dank!
Bei Zentauern werd ich immer sofort hell wach: Paul Heyse „Der letzte Centaur“; Empfehlung als vermutliche Inspiration für A.Schmidt zu entdecken; der ja fast ausschließlich „neben der Spur“ las. Und Heyse war bereits in den dreißigern sowas von „neben der Spur“, weil Jude, da ist das sehr wahrscheinlich, dass der Teenie Schmidt irgendwo auf diese Novelle stieß:
Es ist eine der garantiert besten und heute noch aktuell interpretierbaren von St.Paul.
Dass immer dieses „Kaff“-Dingens so gemocht wird, bleibt mir ein Rätsel. Das war doch sowas von handlungslos.
Meine Schmidt-Lieblinge so ganz aus der Hüfte geschossen sind „Das steinerne Herz“ und der „Faun“, der wiederum die Spur zu Fontanes „Birnbaum“ weist. Andererseits ist auch ein Faun ein Fabelwesen wie ein Centaur. Hm. Same Shoobload. Da schließt sich der Kreis.
Ach ja. Das steinerne Herz. Wenn nur eines von Schmidt, dann dieses. Was eine rasante Mischung.
(btw: den Heyse hat er nicht so geschätzt, soweit ich informiert bin. Da war ihm der Raabe sehr viel näher – aber das muß uns ja nicht kümmern 😉
Klar doch. Raabe= Schmidt. Von Autist zu Autist. Spielhagen hat er ja auch nur am Rande mal erwähnt. Dafür sich aber dauernd an Stifters Hinterlassenschaft gerieben. Nun ja. Bleiben halt so letzte Diskrepanzen zwischen Autor und Fan.