Carry Brachvogel: Komödianten. Novellen

Hofenberg Digital 2016, 100 Seiten (i. d. Hardcover-Ausgabe), Erstdruck 1911, auch eine kartonierte und eine gebundene Ausgabe sind erhältlich.

Die 1864 geborene Carry (Caroline) Brachvogel war Tochter der vermögenden Münchner Kaufmannsfamilie Hellmann. Ihre Liebe zur Literatur entwickelte sich früh, allerdings veröffentlichte sie ihr erstes Schauspiel „Vergangenheit” erst 1894, ein Jahr darauf „Alltagsmensch”, ihren ersten Roman. Nach dem frühen Unfalltod ihres Ehemanns 1892 war Carry Brachvogel alleinerziehende Mutter zweier Kinder und überhaupt kein Alltagsmensch. Sie war Frauenrechtlerin und gründete eine Organisation für schreibende Frauen. Überhaupt waren ihre gesellschaftspolitischen Ansichten nicht allein für ihre Zeit erstaunlich modern. Die Münchnerin wurde schließlich in den 1920er Jahren weit über die bayerischen Landesgrenzen hinaus bekannt. Sie schrieb Romane, Novellen, Biografien und Feuilletons. Ab 1933 geriet sie als Jüdin ins Visier der Nationalsozialisten. 1942 wurde diese großartige Frau und Schriftstellerin in Thersienstadt umgebracht. Und sie verschwand damit auch aus den literarischen Köpfen ihres Heimatlandes.

Ich habe es dem Blog Sätze & Schätze zu verdanken, daß ich auf Carry Brachvogel aufmerksam wurde. Hier wurde „Im Weiß-Blauen Land. Bayerische Bilder”, das 2013 im Allitera Verlag neu aufgelegt wurde, vorgestellt. Ein Muß für jeden, der Bayern und insbesondere die Gegend um München schätzt. Der Blog buchpost holte aufgrund dieser Vorstellung Carry Brachvogels einen eigenen älteren Beitrag zu dem schon erwähnten Romanerstling „Alltagsmenschen” von 1895 wieder hervor. Das Urteil hier: Ein gelungenes Debüt, mit einigen Schwächen. (Beide Blogbeiträge habe ich am Ende dieses Textes verlinkt). So war denn auch mein Interesse geweckt und ich nahm mir den Novellenband „Komödianten” von 1911 vor. Dieser ist für wenige Cent als eBook bei Hofenberg zu haben, als gedruckte Ausgabe kostet er nur wenig mehr. Die Frage, die ich mir stellte, lautete: Kann man die Brachvogel noch heute mit Gewinn lesen?

„Komödianten. Novellen” ist ein schmales Buch, das etwa einhundert Seiten umfaßt. Das erste Drittel nimmt die titelgebende Erzählung „Komödianten” ein. Die folgenden Erzählungen sind deutlich kürzer. Es können also keine Novellen im eigentlichen Sinne sein. (Ich habe auf Hinweise für Kürzungen gesucht, aber nichts Eindeutiges gefunden). Was die fünf Geschichten umspannt ist, dass die handelnden Personen allesamt damit beschäftigt sind, ihre Rollen zu spielen. Als Suchende, aber auch als Erstarrte werden sie in den Texten beschrieben. Und mit Rollen sind hier eindeutig Geschlechterrollen gemeint. Insofern sind alle Protagonisten Schauspieler und Schauspielerinnen, Komödianten und Komödiantinnen und der Titel macht durchaus Sinn. Hier der Inhalt der einzelnen Erzählungen in Stichworten:

Komödianten
Der gefeierte Schauspielstar Meta Martens tritt von der Bühne ab, geht aufs Land und sucht das einfache Leben fernab aller Mühsal und Plage, die das Theaterleben fordert. Die Novelle ist in fünf Kapiteln eingeteilt und strotzt nur so von feiner Ironie und Gesellschaftskritik. Alles ein wenig überzeichnet, aber mit feiner Beobachtung und viel Witz.

Das große Schweigen
Die einstmals sich liebenden Eheleute schweigen sich seit zehn Jahren an. Genauer, es schweigt Herr Schütting, ein Industrieller, nach einem Seitensprung seiner Gattin Tilla, einer ehemaligen Schauspielerin. Doch dann steht das Diner mit dem Staatsrat bevor. Die große Wende? Wir fahren Achterbahn in Tillas Gedankengebäude. Raffiniert gemacht. Psychologie einer Frau Anfang des letzten Jahrhunderts.

Dichters Liebestod
Die kürzeste Geschichte, ein paar wenige Seiten. Der einjährige Todestag eines bekannten Dichters, drei Journalisten, englischer, französischer und deutscher Zunge, drei Mädchen, die träumen, die Ursache für den Tod des Dichters zu sein. Ganz ehrlich: Da kam ich nicht wirklich mit. In meinen Augen die einzige schwache Geschichte.

Neue Frauen
Doktor Thieme, Berichterstatter in Paris, wird von seiner Zeitung zurück in die deutsche Heimat berufen. Glücklich ist er darüber nicht. Er trifft auf die ”neuen Frauen”. Diese deutschen Emanzen behagen ihm noch weniger. Dann trifft er auf Henny Berent. Sie sei keine Emanzipierte, keine ”neue Frau”, sondern verlange lediglich das Recht auf Persönlichkeit spricht Frau Berent. Doktor Thieme ist Feuer und Flamme. Er wird sich noch umschauen. Allerlei Gedanken zur Emanzipation, verpackt in einer kleinen Komödie.

Tragödie aus der Sommerfrische
Meine Lieblingsgeschichte. Ein junges Paar, fast noch Halbwüchsige in ihrer ersten Liebe, gehen spazieren. Die Tragödie in Person eine Frau „nicht mehr jung und noch nicht alt” auf der Parkbank. Und natürlich hat der junge Mann keine Chance. Ziemlich böse.

Lasse ich mal „Dichters Liebstod” beiseite, kann ich nur sagen, dass ich mich bei der Lektüre dieser Erzählungen außerordentlich gut amüsiert habe. Das ist alles witzig, spritzig und voller ironischer Wendungen, zum Teil fast schon Satire. Dazu ein kleiner Spritzer Triviales und viel Psychologie der Geschlechter. Dass solche Erzählungen in den 1950er Jahren nicht neu aufgelegt wurden, muss einem nicht verwundern. Das war einfach zu subversiv, wenn man das Geschlechterverständnis der Adenauer-Ära zum Maßstab nimmt. (Es wird aber auch noch andere Gründe für das Vergessen gegeben haben). Natürlich merkt man den Texten stilistisch an, dass sie vor hundert Jahren geschrieben wurde. Aber es macht so viel Spaß, Carry Brachvogel, dieser modernen, aufgeklärten und mit feinen Humor ausgestatteten Autorin zu folgen, dass dieses Faktum den Reiz der Lektüre eher erhöht. Was ein frischer Blick auf den Emanzipationsgedanken. Wir können das erbarmungslose und schreckliche Schicksal von Carry Brachvogel nicht mehr ändern, aber wir können sie lesen. Es wäre nicht nur zu unserem Besten, sondern auch zu unserem Vergnügen.

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8 Kommentare on "Carry Brachvogel: Komödianten. Novellen"


  1. Wunderbare Vorstellung dieser Erzählungen – ich war beim Lesen auch baff, wie modern diese Frau dachte und wie witzig sie schrieb. Freut mich sehr, dass Du sie auch entdeckt hast! Und: Danke für den Link!
    Einen schönen Abend wünscht Dir Birgit

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    1. Ich habe Dir zu danken Birgit, kannte ich Carry Brachvogel doch bis vor einiger Zeit gar nicht. Wirklich so frisch und uneingeschränkt zu empfehlen. Toll!
      Liebe Grüße,
      lena

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    1. Ja Rosie, ist eher ein „Must Read” als eine Empfehlung. Ideal für einen langen verregneten Nachmittag.
      Liebe Grüße,
      lena
      PS.: Wir vermelden tapfer 31 Grad.

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  2. Oach. Ich dachte, hier gehts um DEN Brachvogel, der „Friedemann Bach“ und „Oberst von Steuben“ geschrieben hat. (Wobei das eine glatter Rufmord und das andere propagandistische Überhöhung ist) Knapp daneben. 19.Jahrhundert hätte immerhin gestimmt.

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