Lit Deutsch

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Mit Texten von Susanne Fischer. Suhrkamp 2020, 254 S., ISBN: 978-3-518-80450-6.
Arno Schmidt Zettel’s Traum. Ein Hör-Lesebuch. Gelesen von Ulrich Matthes. Laufzeit: 363 Minuten. Aufbau Audio 2021. ISBN: 978-3-96105-214-1

1334 großformatige Seiten in der Typoskriptausgabe, 1536 Seiten in der von Friedrich Forssmann und Günter Jürgensmeier gesetzten Edition. Ein Gigant von einem Buch, dreispaltig, parallel und dynamisch angeordnet: Handlung, Auseinandersetzung mit Poe, Assoziationen, Reflexionen und Gedachtes, Geräusche der Außenwelt. Es gibt eine Handlung mit vier Protagonisten, der man kaum zu folgen vermag vor lauter Poe, Etymtheorie, verkopfter Verschreibkunst und Instanzen, die sich nur für ältere, geniale Männer mit Impotenz erschließen. Da ist schon vieles, das nervt und mich eigentlich nichts anzugehen scheint. Aber was hilft’s, ich bin Arno Schmidt Leserin und da ist dieses schreckliche Buch aus dem Jahre 1970, was offensichtlich geschrieben werden musste (und vielleicht auch furchtbar misslang): »Zettels Traum«. Nun bin ich 60, berufstätig (ganz ohne Bücher) und Lesezeit steht für solch eine Zumutung eigentlich nicht zur Verfügung. Doch dann kam 2020 das Lesebuch zu »Zettel’s Traum« im Suhrkamp Verlag heraus und 2021 bei Aufbau die Lesung mit Ulrich Matthes auf einer MP3-CD . Wenn nicht jetzt, dann eben nie. Oder doch?

Die Andere Bibliothek 2021, Band 442, Die Nacht des Dr. Herzfeld (S. 7 – 230), Schnee (S. 233 – 503) und ein Nachwort von Lothar Müller (S. 507 – 522), ISBN: 978-3-8477-0442-3, gebundene Ausgabe.

Georg Hermann hieß eigentlich Georg Hermann Borchardt und wurde 1871 in Berlin geboren. Georg Hermann war auf vielfältige Art schriftstellerisch tätig, schrieb Essays, nahm zu Problemen der jüdischen Identität Stellung, schrieb Dramen. 1943 wurde der »jüdische Fontane«, wie er wegen seiner Vorliebe für diesen Autor genannt wurde, im KZ Auschwitz ermordet. Für lange Zeit schienen Georg Hermann und seine Romane vergessen. Mit den Romanen »Jettchen Gebert« (1906) und dessen Fortsetzung »Henriette Jacoby« (1908) avancierte er zum Erfolgsschriftsteller. Diese Romane spielten Mitte des 19. Jahrhundert in einer jüdischen großbürgerlichen Familie. Mit »Kubinke« (1910) und dem hier vorgestellten »Die Nacht des Dr. Herzfeld« (1912) wendete sich Herzfeld seiner Gegenwart zu. Hermann zeigt uns das zu seiner Zeit aktuelle Berlin und er zeigt es uns überaus detailreich.

Vandenhoeck & Ruprecht 1966, 2. durchges. Auflage 1981, Bd. 17. Das Odfeld. Der Lar. (S. 221-395), als PDF bei »digi20.digitale-sammlungen.de« zum Download. Preiswerte Buchausgaben sind antiquarisch gut zu erreichen.

Den Lar sollte man nicht auslassen. Zwischen Odfeld und Stopfkuchen, zwei Riesen also im Raabschen Erzählkosmos, tummelt sich »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte«. Eine Geschichte für jeden Festtag also. Raabe selbst hatte es mal nötig, sich so richtig gehen zu lassen, und so heißt das ironische Motto: »O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!« Raabe tut das: 1889 kommt die Erzählung erst als Dreiteiler in Westermann Monatsheften, dann als Buch heraus. Es wird ein Erfolg und dann wird die Erzählung irgendwie vergessen. Zu Unrecht, wie man sehen wird. Dass das keine gewöhnliche Schmonzette geworden ist, wird uns schon beim Lesen des Vorworts klar: Paul Warnefried Kohl mit seiner Frau Rosine, geborene Müller, am Taufbecken. Mit von der Partie Kohls Jugendfreund Bogislaus Blech und der Kreisdienstarzt a. D. Schnarrwergk. Das glückliche Ende ist doch jetzt eigentlich schon erzählt? Nicht doch, es geht erst los.

Empfohlene Ausgabe: Wilhelm Raabe, Das Odfeld, herausgegeben von Hans-Jürgen Schrader, Insel Taschenbuch, 227 S., ISBN: 3-458-32586-7, antiquarisch noch recht gut zu erreichen. Oder die Reclam-Ausgabe.

Anfang November 1761, mitten im Chaos des Siebenjährigen Krieges stehen der alte Magister Noah Buchius und der ruppige Klosteramtmann von Amelungsborn am Rande des Odfelds im Weserbergland und werden Zeugen eines unheimlichen Spektakulums. Zwei riesige Rabenschwärme fallen übereinander her und befehden sich ohne Gnade. Buchius sieht den Verlauf der tierischen Luftschlacht als ein Zeichen: Der geliebte Herzog Ferdinand von Braunschweig wird siegen und die Menschen vor den einfallenden Franzosen schützen. Wir sind im dritten von fünfundzwanzig Kapiteln und wissen bereits, dass das berühmte Gymnasium von Amelungsborn nach Holzminden verlegt wurde und man den schrulligen Schulmeister Buchius zurückgelassen hat. Er lebt in einer Klosterzelle, leidlich versorgt von dem Amtmann, der mit Familie und Gesinde ebenfalls vor Ort ist. Die Lage wird immer brenzliger, die Gegend und damit auch das Kloster stehen mitten in der Kampfzone. Wir Leser und Leserinnen von »Das Odfeld« bleiben für die nächsten Stunden im Geschehen.

Berenberg Verlag 2020 (2015), 160 Seiten, ISBN 978-3-946334-88-0, auch als E-Book erhältlich.

Nun können wir es wieder kaufen, dieses kleine, feine Meisterstück der Autorin Christine Wunnicke von 2015: »Der Fuchs und Dr. Shimamura«. 144 Seiten in der vergriffenen, gebundenen Ausgabe, 160 Seiten hat die neue Klappenbroschur, die Ende 2020 erschienen ist. Beide Ausgaben bei Berenberg, beide Ausgaben ein Augenschmaus. Genug um an dieses Buch in meinem Blog zu erinnern, auch wenn es schon bei seinem ersten Erscheinen vor sechs Jahren für reichlich Furore gesorgt hat. Der kleine Roman über den historisch belegten Dr. Shimamura handelt von der Fuchskrankheit, von Seelenkunde und Aberglaube in Japan, von den Anfängen der neurologischen Forschung in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts und das Buch zeigt, was Literatur mit diesen Themen so alles anfangen kann.

Unionsverlag 2005, Taschenbuchausgabe, 320 Seiten, ISBN: 3293203159, mit einem Nachwort von Hg. Bernhard Echte, Anmerkungen und einem editorischen Bericht. Textgleich mit der gebundenen Ausgabe beim Limmat Verlag, die antiquarisch noch zu erreichen ist.

Vor wenigen Wochen erschien im Schweizer Limmat Verlag der Prachtband »Friedrich Glauser. Jeder sucht sein Paradies« von Christa Baumberger. Eine Sammlung bisher zu großen Teilen unveröffentlichter Briefe, Berichte und Gespräche aus dem Leben des bedeutenden Schweizer Schriftstellers Friedrich Glauser. Doch vor der Anschaffung war eine Frage zu klären: Ich besitze aus jungen Lesetagen die Bücher aus der Wachtmeister-Studer-Reihe und die vier Erzählbände – aber interessiert mich Glauser heute überhaupt noch, hat er mir noch etwas zu sagen? Das sollte möglichst vor dem Kauf eines solchen Prachtbands geklärt werden. Ich zog Glausers Meisterstück aus der 6-bändigen Wachtmeister-Studer-Kassette des Unionsverlags, die heute mit Glück noch antiquarisch zu erreichen ist. »Matto regiert« also habe ich nach vielen Jahren wiedergelesen. Und es war eine erstaunliche Lektüre.

Vandenhoeck & Ruprecht 1970, Braunschweiger Ausgabe, Band 16;
Antiquarisch gut erreichbar: Insel 1985, Werke in Einzelausgaben, Band 5, 195 S., ISBN: 3-458-32585-9;
Braunschweiger Ausgabe als PDFs: digi20.digitale-sammlungen.de

Wilhelm Raabes veröffentlichte seine Langerzählung »Im alten Eisen« 1887. Sie gehört zu seinem Spätwerk, also den guten, knappen 200er Seiter, die nie ein großer Erfolg beim breiten Publikum wurden, aber heute von großem Interesse sind oder sein könnten. Diese Romane oder langen Erzählungen, »Stopfkuchen«, »Das Odfeld«, »Die Akten des Vogelsangs« und andere sind literarisch viel zu interessant, um in Vergessenheit zu geraten. Resigniert ob des Desinteresses des deutschen Lesepublikums, dem ihr Humorist und Idylliker abhandenkam, schrieb Raabe in dieser Periode für sich und sein literarisches Konzept. Ein Glücksfall für uns heutigen Leserinnen und Leser.

Rowohlt 2020, 336 S., ISBN: 978-3-7371-0085-4

Noch kein Buchgeschenk zu Weihnachten? Ich hätte einen Vorschlag zu unterbreiten, bei dem mit einiger Sicherheit auch im Last-Minute-Modus ein Treffer zu landen ist. Mit dem Bestseller »Handbuch für Zeitreisende« der »Sachbuchautorin und Sachausdenkerin« Kathrin Passig und dem Astronomen Aleks Scholz kann man kaum etwas falsch machen. Man entflieht diesem schnöden 2020 auf äußerst elegante Weise. Wir setzen die Existenz von Paralleluniversen voraus und schon macht alles hier Geschriebene Sinn. Es werden  Stippvisiten in verschiedenste Epochen der Menschheit unternommen, urgeschichtle Exkursionen besprochen und selbst ein Flug Richtung Urknall wird erörtert (und nicht empfohlen). Der Ton ist durchaus nicht ironiefrei, kommt aber ohne nervtötende Flapsigkeit aus. Größten Wert wird auf praktische Nutzbarkeit und das Vermeiden fataler Fettnäpfchen gelegt. Vor Antritt der Reise also das »Handbuch für Zeitreisende« lesen und es kann fast nichts mehr schiefgehen. Ein ideales Verschenkbuch für Frühbucher, nicht nur zur Weihnachtszeit.

Klöpfer, narr 2019, 268 S., ISBN 978-3-7496-1003-7

Schaut man sich in Wikipedia nach dem Stichwort »Sibyllinische Bücher«, dieser legendären griechischen Sammlung von Orakelsprüchen, um, kommt man schnurstracks auf Sibylle von Cumae und den letzten römischen König Tarquinius Superbus. Nimmt man den griechischen Gott Phoebus Apollon dazu, hat man im Wesentlichen das Personal beisammen, mit dem Sibylle Knauss ihre Zeitreise von der legendären Zeit der griechischen Götter bis zu unserer wohl nicht mehr allzu weit entfernten düsteren Zukunft antreten lässt. Die Autorin will unterhalten, das ist ihr Anspruch an Literatur. Und so wagt sie immer wieder Neues, wie auf dem Buchdeckel verraten wird. Hier also ein Buch über Sibylle von Cumae. Wir sind über 500 Jahre vor Christi Geburt: Sibylle hat eine Liaison mit dem Gott Apollon und als Folge wird sie eine Seherin und »Eine unsterbliche Frau«.

Kiepenheuer&Witsch 2020, 288 S., ISBN: 978-3-462-05256-5

Thomas Hettche ist Jahrgang 1964 und hat »Der Fall Arbogast«, »Die Pfaueninsel« (dafür erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis) und viele andere geschätzte und vielbeachtete Romane geschrieben. Das Thema seines jüngsten Buches ist die Augsburger Puppenkiste. Fast ein Selbstläufer möchte man meinen, denn wer kennt sie nicht: Jim Knopf und Lukas, die Prinzessin Li Si, das Urmel, die traurigen Ohrwürmer des Seele-Fanten, Kalle Wirsch und so fort – eine schier unendliche Reihe unvergessener Figuren des legendären Marionettentheaters aus Augsburg. Fasziniert hat die Puppenkiste aus Augsburg auch mich und ich lade bis heute ab und an bei Kaffee und Kuchen das Urmel, Kim Knopf oder Kalle Wirsch zu mir nach Hause ein. Von der Kraft der Phantasie in dunkler Zeit handelt dieses Buch, so verspricht der Verlag. Und so war ich sehr gespannt auf »Herzfaden«, den Roman der Augsburger Puppenkiste.