PalmArtPress 2020, 350 S., ISBN: 978-3-96258-050-6
Ein Wenderoman, ein Berlinroman, ein Künstlerroman, über 45 Jahre nach Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« – eine Menge Zuschreibungen von Verlag und Autor. Ich lasse das erst einmal alles weg und beginne mit dem Lesen. Frederic Wianka hat also mit »Die Wende im Leben des jungen W.« sein Debüt gegeben. Vom Verlag erfahren wir, dass der Autor in Potsdam und Schwerin aufgewachsen ist und, nicht ohne Ironie vermerkt, ihm am 9. November 1989 der Ausreiseantrag genehmigt wurde. (Diese Daten verraten uns, dass er ein paar Dinge mit dem Helden seines Romans gemeinsam hat.) Dann erste Lesungen 2009, ein Literaturpreis 2010, 2020 »Die Wende im Leben des jungen W.«. Genug vom Autor, legen wir also los mit dem Buch.
Angelegt, zumindest pro forma, ist »Die Wende im Leben des jungen W.« als Briefroman. Der Held W. schreibt seinem Freund Ingo. Man könnte das, was folgt, auch einen einzigen Monolog nennen, ein ganzes Leben, das sich nicht wie in Grenzsituation sekundenschnell im Kopf eines Menschen abspult, sondern ausgebreitet auf 330 Seiten erzählt wird. Schwerin, der Balaton in Ungarn, Berlin, München sind einige wichtige Stationen des Helden. Die Erzählung springt von einem Ort zum anderen, in der Zeit vor und zurück. Am Ende ist der Held tot und sein etwas ominöse Jugendfreund Ingo, der am Professorentitel erkennbar in der Bundesrepublik Karriere gemacht hat, entscheidet, was mit seinem Nachlass geschehen wird. Die letzten zwanzig Seiten des Buches beinhalten dankenswerterweise ein Glossar mit DDR spezifischen Namen und Begriffen.
Was ist eigentlich los mit W.? Hier eine sehr kurze Zusammenfassung: Er wächst auf in einer Familie ohne leiblichen Vater, denn dieser haut noch vor seiner Geburt ab (Republikflucht wie es scheint. An einer Stelle wundert sich W., warum sein Freund Ingo davon weiß). Seine Mutter überschüttet ihn nicht mit Liebe, sein Stiefvater mag ihn nicht. W. hat früh etwas von einem Rebellen. Er eckt an im System. Nach einer »Schießübung« auf die Porträts der DDR-Oberen kommt er in Haft. Dann der Mauerfall. Er verliebt sich, doch es wird nichts daraus. Inzwischen hat W. seine Berufung als Maler gefunden: »Das Sehen hatte ich am Balaton gelernt.« Doch trotz Erfolges als Künstler scheitert er am Leben und an seinen eigenen Ansprüchen. Warum aber? Diese Frage bleibt seltsam unbeantwortet. Die Verhältnisse? Verlust der Heimat? Die Haft? Familie? Oder vielleicht doch er selbst?
Warum soll ich mich auf dich einlassen, auf mehr als nur ein bisschen meiner Zeit? Du weißt nichts von mir und willst nichts wissen. Das ist alles so verlogen. Du interessiert dich nur für dich.
(Wianka, 2020, S. 197)
So redet wütend und verzweifelt eine Freundin zu W. und ich erwische mich als Leserin bei heftigem Kopfnicken. Ja, unser Held, das lässt sich kaum abstreiten, ist ein Egomane und Narzisst, wie er im Buche steht. Tatsächlich ist W. unentwegt mit sich selbst beschäftigt, sozusagen im Gefängnis eigener Selbstreflexion hockend. Das schlägt sich auch im Schreibstil nieder: Assoziation, Reflexion, Sprünge, Urteile, Verschrobenheiten … alles im permanenten Furor dargeboten: Das fordert mich als Leserin durchaus, zumal es der Autor hier und da mit der Komplexität seines Satzbaus übertreibt oder manchmal auch danebenliegt. Von dem Phänomen, dass Debütromane gern einmal ein wenig zu viel an Sprachkunst zeigen wollen, kann ich »Die Wende des jungen W.« nicht gänzlich freisprechen. An manchen Stellen verdeckt Sprache so mehr, als das sie zeigt. Auf der anderen Seite aber hinreißende Szenen: Als er z. B. mit Mutter und Stiefvater unter strenger Rollenverteilung im Urlaub auf Fotosafari geht: Das ist nicht nur exakt beschrieben, sondern auch hochkomisch. Der Autor kann was.
Mein Fazit: Mit seinem W. hat Frederic Wianka eine komplexe Figur geschaffen, die mir noch ein paar Tage im Kopf herumgeistern wird. (So ein Gefühl eben, dass ich dem Protagonisten irgendwann schon mal begegnet bin.) Das ist nicht wenig. Für mich ist »Die Wende im Leben des jungen W.« weit mehr als ein Wenderoman. W. scheitert eben nicht ausschließlich an den Verhältnissen. Insofern ist das Buch auch ein Entwicklungsroman, der ohne Happy End auskommt. Bei der nächsten Veröffentlichung von Herrn Wianka werde ich auf alle Fälle aufhorchen.