Ursula Naumann: El Caballero Gustavo Bergenroth. Wie ein preußischer Forscher in Spanien Geschichte schrieb

Insel Verlag 2020, 346 S., ISBN: 978-3-458-17848-4, auch als E-Book erhältlich.

Ursula Naumann ist Schriftstellerin und Germanisten. Der Verlag gibt auf seiner Webseite bekannt, dass die Autorin Frau Naumann heuer ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. Herzlichen Glückwunsch! Ich bin auf Ursula Naumann und ihre Biographie »El Caballero Gustavo Bergenroth. Wie ein preußischer Forscher in Spanien Geschichte schrieb« durch einen Literaturpodcast, genauer durch »Gutenbergs Welt« vom WDR gekommen: Walter von Rossum unterhält sich mit der Autorin über einen Juristen aus Ostpreußen, Jahrgang 1813, der über abenteuerlichste Wege ins spanische Simancas gelangte, um dort historische Dokumente aus der Tudorzeit zu entschlüsseln. Kein Mensch hierzulande kennt Gustav Bergenroth. Der renommierte Historiker Geoffrey Parker benennt Bergenroths Arbeiten in seiner 2019 erschienen und gefeierten Biographie »Emperor. A new life of Charles V« als außerordentlich wichtige Quellen. Wer um alles in der Welt war also dieser Bergenroth? Warum ist er so vergessen? Meine Neugierde war geweckt.

Nun will ich keineswegs die Biographie Bergenroth in allen Einzelheiten nacherzählen, dafür aber ein paar Stationen seines Lebens: Bergenroth wird 1813 in Oletzko, Kreis Gumbinnen, am nordöstlichen Rand von Ostpreußen in eine gutbürgerliche Familie geboren. Wie seinen Vater wird auch ihn die Sehnsucht nach einem Mehr an Demokratie sein Leben lang begleiten. Er wird erst einmal Jurist. An der Märzrevolution nimmt er aktiv teil, wenn auch nicht auf den Barrikaden. Bergenroth ist mehr Theoretiker. Er studiert Statistik. Sieht hier eine Möglichkeit, das Elend der lohnabhängigen, leidenden Bevölkerung zu mildern, sieht aber auch die Gefahren der Manipulation. Überhaupt sieht er viel voraus. Gustav Bergenroth ist ein Selbstdenker, außerordentlich intelligent, mitunter ungestüm. Nach der missglückten Revolution muss er sich absetzen. Er wählt die Reise nach Amerika, was ihm fast das Leben kostet. Dieses Abenteuer wird ein Fiasko und am Ende ist er froh, wieder in Europa zu sein. 1855 geht er nach London, ein Zufluchtsort vieler gescheiterter Revolutionäre und liberal Gesinnter vom Kontinent. Fontane war da, auch Marx, beide aus sehr unterschiedlichen Beweggründen. Bergenroths Plan, Geschichte zu machen ist gescheitert, also schreibt er Geschichte auf. Er war Jurist, er war Statistiker, jetzt ist er Historiker. Erst einmal schlägt er um sich, greift renommierte Fachleute scharf an. Er will hinter die wahren Beweggründe von Politik kommen, keine offiziellen Lehrmeinungen nachplappern. Er weiß, er muss in die Archive, er muss die geheimen Depeschen und Dokumente der großen Politik finden und erforschen. Die liegen für die Zeit der Renaissance und der Reformation zu einem großen Teil im Archivo General de Simancas, nicht weit von der Provinzhauptstadt Valladolid in Kastilien gelegen. Bergenroth wird im Archiv misstrauisch beäugt und er arbeitet wie ein Berserker. Und er hat Erfolg. Es gelingt ihm sogar, hochkompliziert chiffrierte Texte zu entziffern. Er stellt die hehre Politik des 16. Jahrhunderts auf die Füße, mit all ihrer Hinterlist, Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit. Das mag nicht jeder, doch der Außenseiter macht Furore, nicht nur in England. Er plant einen aufsehenerregenden Band über Karl den V. Doch Gustav Bergenroth ist geschwächt, das Augenlicht kann noch einmal gerettet werden, doch dann rafft ihn das Fieber nieder. Er stirbt kurz vor seinem 56. Geburtstag in Madrid. Preußen und England streiten sich um seinen Nachlass. Seine Verdienste sind enorm, doch sein Ruhm? Er war ein Quereinsteiger, ein Privatgelehrter, hatte keinen Apparat um sich. Bergenroth wird vergessen, obwohl seine Erkenntnisse in viele historische Arbeiten einfließen werden. 

Ursula Naumann gelingt es trotz vieler biographischer Lücken ein faszinierendes, spannendes und erstaunliches Leben nachzuzeichnen. Geschickt lässt sie die wenigen Zeitzeugen sprechen, jede Stimme wird im Anhang nachgewiesen und ist so nachvollziehbar. Lücken werden deutlich gemacht und der Autorin gelingt es, Sympathie und gebotene Distanz in Einklang zu bringen. Sie hofft, sagt sie am Schluss, damit einen Anfang gemacht und Anstoß gegeben zu haben: Bergenroth hat ihrer Meinung nach mehr Forschung verdient. Ich gebe ihr unbedingt recht.

Und wer nach der Lektüre von Ursula Naumanns »El Caballero Gustavo Bergenroth« immer noch nicht einsehen mag, dass die Epoche der Tudors, dass Karl V., Katharina von Aragon, Johanna die Wahnsinnige und all ihre Zeitgenossen von Interesse sind, dem ist eben nicht mehr zu helfen.