Atrium 2018, 768 S., aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl, 978-3-85535-017-9 (als Hardcover, Taschenbuch oder E-Book erhältlich)
Im 64. Jahr seiner Regentschaft stirbt der japanische Kaiser Hirohito. Zeitgleich im Januar 1989 wird in Tokio ein siebenjähriges Kind entführt. Die Arbeit der Polizei verläuft nicht ohne Pannen und am Schluss ist das Kind tot, das Lösegeld verschwunden. Es wäre eine wichtige Spur gewesen, hätte man die Aufzeichnung der Stimme des Entführers nicht vermasselt. So bleibt es ein ungelöster Fall mit dem Aktenzeichen 64. 2002: Nicht ganz freiwillig ist Mikami Pressedirektor der örtlichen Polizei, denn er fühlt sich eigentlich der Kriminaluntersuchung zugehörig. Mikami ist in Nöten: Seine Tochter ist verschwunden, in der Ehe kriselt es nicht nur deswegen und in der Arbeit wird er gemobbt. Er soll den Besuch des Generalinspekteurs vorbereiten, der just am Schauplatz des ungelösten Verbrechens von 1989 Rauchopfer darbringen will. In Verwaltung, Kriminaluntersuchung und Presse herrschen hellste Aufregung und ein einziges Hauen und Stechen.
Yokoyamas »64« ist auch als Taschenbuch ein gewaltiger Block, immerhin doch 768 Seiten stark. Geschmackvoll aufgemacht und vorn und hinten mit Personen- und Sachregister versehen, wofür die Leserin dankbar ist. Und bei so viel euphorischen Kritiken, es geht bis zum geforderten imaginären Nobelpreis für Kriminalliteratur, kann die Lektüre doch keine schlechte Idee sein. Ich erlag also dem Reiz, kaufte und begann zu lesen. Unter dem Titel steht auf dem Cover ›Thriller‹ gedruckt und die ersten 200 Seiten beinhalten Intrigen, Hierarchienkämpfe (und zwar japanische), Karriereknicks, Aufstiege, Abstiege und so weiter. Der Held Mikami weiß, wie schon erwähnt, nicht so genau, warum er eigentlich in die Pressestelle versetzt wurde. Hier läuft er immer wieder gegen Mauern, kommt nicht vorwärts, versteht nicht, grübelt weiter. 200 Seiten lang wird ein zugegebenermaßen rüder Büroalltag gezeigt, den man in vielleicht abgeschwächter Form auch im eigenen Alltag erfahren kann, und Mikamis Gedanken und Vermutungen zum Fortgang der eigenen Karriere. Zu Hause ist Mikamis Ehe nicht im besten Zustand und dann ist noch die pubertierende Tochter weggelaufen. Sie hasst ihr Gesicht, denn unglücklicherweise hat sie das vom Vater und nicht der schönen Mutter vererbt bekommen und nun ist sie verschwunden. Vater und Mutter besuchen jetzt immer wieder mal ein Leichenschauhaus, um ihre vermeintliche Tochter zu identifizieren. Horror. Zumal das Ehepaar viel miteinander schweigt.
Hat man die ersten 200 Seiten überstanden, kommt ein wenig Fahrt in die Sache. Es gibt ein geheimnisvolles Memo über wichtige Aspekte der Polizeipanne von 1989 und Mikami fängt an zu ermitteln, doch so ganz nebenbei hat er auch noch den Aufruhr der Journalisten zu beruhigen, die eine Änderung der polizeilichen Informationspolitik fordern. Loyalitäten, Unterwerfungen, patriarchische Ordnungen: Durch das ganz Buch hindurch werden Aspekte der japanischen Gesellschaft den LeserInnen nahe gebracht und selbst der Held fragt sich hier und da vorsichtig, ob sein gewohntes Rollenverhalten in Ordnung ist. Nicht immer war mir klar, ob Konflikte überzeichnet oder realistisch dargestellt sind, besonders was die breit erzählten Bürorivalitäten betrifft. Die Sprache ist nüchtern, keineswegs mitreißend und den zahlreichen Figuren kam ich nicht wirklich nah – vielleicht am ehesten noch Amamiya, dem Vater des ermordeten Kinds von 1989. Wenn ich das richtig sehe, war die englische Übersetzung des japanischen Originals Grundlage für die deutsche Übertragung. Vielleicht erklärt das, warum die Sprache ein wenig steif wirkt. Mehr sprachliche Elastizität hätte man sich grad für einen solch voluminösen Gesellschaftskrimi schon gewünscht.
Im letzten Drittel dann wird der Thriller tatsächlich zu einem Thriller. Es wird richtig spannend, das Ende hat überraschende Wendungen und ein durchaus zufrieden stellenden Schluss. Es bleiben im Gedächtnis eine japanische Gesellschaft im Umbruch, eine wild gewordene Bürokratie, die sich um sich selbst kreist und der die real existierenden Menschen Beiwerk sind, und gegen Ende ein spannendes Finale. Ein vielleicht doch zu bescheidener Ertrag für so viel Lesezeit. (Und den Hymnen der Feuilletons stehe ich nicht zum ersten Mal ein wenig ratlos gegenüber.)