Hanser Verlag 2012, 840 Seiten, ISBN: 978-3446238749, übersetzt von Vera Bischitzky, auch als Taschenbuch bei DTV erhätlich.
1859 betritt Oblomow die literarische Welt. Leser und Leserinnen dieses Romans von Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) haben gegenüber den Romanen der großen Dostojewskij und Tolstoi einen Vorteil: Es hat zwar viele Seiten, aber das Personal bleibt übersichtlich. Man weiß also immer, wer die handelnden Personen sind. Und wenn man bei den Hausangestellten doch einmal durcheinandergerät, hat man eben zu schnell gelesen. Es passiert außerdem nicht wahnsinnig viel auf den 746 Seiten: Oblomow, der zu Beginn des Romans etwa dreißigjährige Held, lebt in Sankt Petersburg und ist gefangen in seiner Lethargie. Den Staatsdienst hat er hingeschmissen, allein die russische Klassengesellschaft der Zarenzeit sichert ihm materielles Auskommen. Dieses gerät in Gefahr, weil selbst die Unterhaltung des väterlichen Gutes ihn überfordert: Nichts wird zur Tat, alle Gedanken zur Verbesserung erstarren zu Träumen und Phantastereien. Zudem versuchen zweifelhafte Freunde, ihn übers Ohr zu hauen. Doch es gibt zwei Personen, die ihn lieben und versuchen, Oblomow zu retten.
Da ist der Jugendfreund Stolz, Oblomow in tiefem Herzen verbunden und gleichzeitig das krasse Gegenteil von ihm. Er verkörpert das aufstrebende Unternehmertum, das naturgemäß die starren Klassenordnungen aufzulösen beginnt. Er ist agil, geschäftig und handelt stets überlegt. Er versucht alles, um seinen Freund Oblomow aus dessen Passivität zu lösen und wo er Gefahr für Oblomow wittert, versucht er diese zu beseitigen. Nicht ganz ohne Belang ist, dass er von Geburt Deutschrusse, also ein Außenseiter der russischen Gesellschaft ist.
Schließlich Olga, die anfangs noch etwas kindliche Heldin, die von Kapitel zu Kapitel sich entfalten wird. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, Oblomow vermögens Liebe zu erlösen. Bei allem Einsatz und tief empfundener Zuneigung: Sie wird es nicht schaffen. Allein aufhören, Oblomow zu lieben, wird sie nicht. Nach einem herzreißenden Hin und Her wird sie schließlich Stolz heiraten und weiter wachsen. Nein, das ist keine Vernunftehe, das wäre falsch formuliert, aber Olga wird zeitlebens etwas fehlen.
Zurück zu Oblomow. Bei Klassikern darf man ja ruhig das Ende verraten: Er wird untergehen und sterben. Und Olga und Stolz werden nicht die einzigen Menschen sein, die er ratlos und unglücklich zurücklässt. Und die Moral von der Geschicht‘? Sicher liegt es nah, die eine oder zwei Lehren individueller und gesellschaftlicher Natur aus diesem Roman zu ziehen, und schließlich wurde die Oblomowerei ja auch sprichwörtlich. Aber der Roman bietet noch so viele andere Aspekte, allein die hinreißenden Liebesdialoge Olgas, erst mit Oblomow, dann mit Stolz seien hier genannt. Das geht über Seiten und ich möchte, obgleich nicht selten eine etwas ungeduldige Leserin, keine davon missen. Nein, ich stimme Rolf Vollmann nicht zu, es hätten keine zweihundert Seiten für die Figur des Oblomow und damit für den Roman genügt. Es sind viele andere Gestalten, die einem nach der Lektüre nicht loslassen möchten. Da wäre zum Beispiel Agafja, die von Stolz verachtet wird, deren Ellbogen und Essen Oblomow liebt. Wegen ihres Schicksals habe ich geweint am Schluss und überlege immer noch, warum … Bitte lest dieses wunderbare Buch.
Am Schluß noch ein Wort zur Übersetzung. Eine vergleichende Übersetzungsstudie habe ich nicht betrieben, des Russischen bin ich nicht mächtig. Aber ich kann sagen, dass hier nichts ruckelt oder zwackt und dass der fast 160 Jahre alte Text sich erstaunlich frisch und lebendig liest. Insofern ist der Übersetzerin Vera Bischitzky ein großes Lob zu sagen. Auch der Anmerkungsapparat hat das richtige Ausmaß und hilft, wenn er soll.
Deiner Leseempfehlung schließe ich mich vollumfänglich an: Ja, der Roman hat außer Oblomow (eigentlich der einzige richtige Antiheld dieses Buches) noch so viele andere hinreißende Figuren, das ist einfach wunderbar. Und wie Vollmann auf die Idee kommt, es hätten weniger Seiten für Oblomow gereicht, das ist etwas ???? Durch dieses Sich-Hinziehen kann man doch als Leser gerade mitempfinden, wie ungeduldig dieser Meister der Prokrastination seine Umwelt gemacht hat, gerade dadurch entsteht doch dieses Gefühl der Oblomowisierung.
Ich muss den Roman bald wieder lesen, er passt so zu meiner derzeitigen Stimmung 🙂
Liebe Birgit,
vielen Dank für den lieben Kommentar! Der Vollmann ist ja für seine subjektiven Urteile bekannt. Soll er ruhig abkanzeln, uns soll das nicht stören. Oblomow bleibt für uns eines der zauberhaftesten Bücher der Weltliteratur. Viel Spaß beim Wiederlesen!
Hm. Kurz vor 1900 sind in Russland soviele Romane und Erzählungen über Lethargie und tagträmerische Reformideen geschrieben worden (Dostojewski, Tolstoj, Tschechow, Turgeniew, …) dass einen Lenins Erfolg 1917 eigentlich gar nicht wundern muss. Deutsche Reichsbankgelder für seine Revolution hin oder her – das Zarensystem war nicht in Agonie, sondern mausetot lange VOR 1917.
Danke für deine Einschätzung/Lesart Bludgeon. Beste Grüße!
I might try to find this book. I just finished „Caught in the Revolution“ by Helen Rappaport. She’s written many books about the times around Czar Nicholas‘ demise. This particular book is from the perspective of English, American and French embassy and business people caught in the revolution.
Thank you Rita. Just had a look to Helen Rappaport. Gontscharow is a classical. Think you will find some good translations.
Liebe Lena, das ist wieder eine Empfehlung von dir, die mich neugierig macht und der ich mit Sicherheit nachgehen werde. Denn bald beginnen die langen Abende, die ich gemütlich auf dem Sofa verbringen möchte – mit einem von Lena empfohlenen Buch in der Hand, einer Tasse Tee und Spritzgebäck neben mir und leiser Gitarrenmusik im Hintergrund.
Herbstliche Grüße aus dem Bergischen Land…
von Rosie
Liebe Rosie,
für dieses von Dir beschriebene Ambiente scheint mir der Oblomow genau das richtige Buch zu sein.
Liebe Grüße und Dank für Deinen Kommentar,
lena (die heute einen Sonnentag an der Donau verlebte)