Galiani Verlag Berlin 2018, ISBN 9783869711386, 592 Seiten auch als E-Book erhältlich.
Nein, das Wetter in Westfalen ist nicht gut in diesen Jahren zwischen 1817 und 1821. 1815 war der Tambora, ein Vulkan östlich von Java gelegen, mit seit Menschengedenken nie erreichter Gewalt ausgebrochen und hatte weltweite Klimaänderungen zur Folge. In endlosen Regentagen entstand Mary Shelleys »Frankenstein« und William Turner brachte die ungewöhnlichsten Farbphänomene auf die Leinwand. Für die einfachen Leute galt es, Missernten zu überstehen. Man aß, soweit vorhanden, das eigene Saatgut oder Pferdefleisch. Der Adel beklagte sich indessen über die vielen Hungerleider überall. Und dann die Verkehrswege in Westfalen, der schlimmsten Gegend Europas, wie englische Reiseschriftsteller zu berichten wissen. Solche Zustände machten Kutschfahrten zur Tortur. Hier also wächst die 1897 viel zu früh geborene Annette, genannt Nette, auf. Kränklich ein Leben lang aufgrund der verfrühten Geburt, extrem kurzsichtig und frech wie Oskar. Sie gehört zum Stamm der Familien von Droste-Hülshoff und von Haxthausen, beides altwestfälischer katholischer Adel. Ein privilegiertes Leben also. Doch das Fräulein Nette hat zwei Probleme: Sie hat Talent und sie ist eine Frau. Und schon sind wir mittendrin in dem 2018 erschienen und fast 600 Seiten starken Roman von Karen Duve.
Leser und Leserinnen habe einen wirklichen Brocken von Buch vor sich. Der Einband zeigt eine Jagdszene als Scherenschnitt (gefertigt vom Multitalent Annette von Droste-Hülshoff): Ein Hirsch scheint über einen Abgrund springend Jägern und Hunden zu entkommen. Auf dem Buchvorsatz vorn der Stammbaum der beiden genannten Adelsfamilien, hinten die Reiserouten im Roman: Münster im Westen, Paderborn, Driburg, Brakel und Höxter, südlich bis zum hessischen Kassel. Es gibt ein Vorwort mit zwei einführenden Kapitel und die insgesamt 36 Kapitel sind nach Jahren angeordnet, chronologisch von 1817 bis 1821. Gegen Schluss des Romans folgt ein Epilog, der den weiteren Werdegang der wichtigsten historischen Personen des Romans kurz umreißt. Anmerkung und Danksagungen und ein etwa 10 seitiges Literaturverzeichnis schließen das Werk ab. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Buch ein Lesebändchen hat.
Karen Duve hat enormen Rechercheaufwand für diesen Roman betrieben. Unter anderem kamen Tagebücher, Lebensbeichten und Briefe zum Einsatz und frei Erfundenes wurden nur soweit wie für die Handlung notwendig eingeführt. So entstand ein Panorama der bewegten Zeit nach Napoleon in Deutschland: Deutschtümelnde-raufende Burschenschaften, die Städte wie Göttingen unsicher machen. Die Studenten empören sich gegen den Adel, für den sie doch gegen Napoleon die Kastanien aus dem Feuer geholt hätten. Diese wiederum beklagen die Schrecken der Industrialisierung, die Bürgerlichen, die ohne innere Haltung nach Geld und Adel gierten. Dann die Grimms, die nach der guten alten deutschen Tradition in der Literatur suchen und jede Menge hugenottische Märchen in ihre deutsche Märchensammlung einfließen lassen. Französischen Vornamen sind jetzt verpönt und man kleidet sich in altdeutsche Tracht. Die Literaten gebärden sich romantisch und diskutieren, wer der größte Dichter deutscher Zunge ist: Kleist, oder doch Schiller, bestimmt Goethe. In Würzburg empören sich Bürger und Studenten gegen das bayerische Edikt zur Judenemanzipation. »Hep-Hep – Jud‘ verreck!« hallt es in Straßen und Gassen und es wird Jagd gemacht, monatelang. Harry Heine, der sich später Heinrich nennen wird und auch seinen Auftritt im Roman hat, kommentiert, dass die Burschenschaften von der Liebe zu Deutschland sprächen, aber doch eigentlich nur mit Genehmigung alles Fremde hassen wollten. Eine wirklich wilde Zeit und vieles kommt einem nur allzu bekannt vor.
Und Nette? Die wird, was ihre literarischen Ambitionen betrifft, nicht zuletzt von der eigenen Familie und Verwandtschaft klein gehalten. Talente haben die Schnösel in ihrer unmittelbaren Umgebung, aber doch nicht sie, eine Frau! Wie viel Geist ist eigentlich bei einer Frau noch akzeptabel? Das sind die Fragen, die Mann sich stellt. Und selbst das persönliche Liebesglück wird perfide untergraben. Der sympathische Straube, noch so ein literarisches Genie, das als Advokat enden wird, ist bitterarm und somit keine passende Partie für eine von Droste-Hülshoff. Es werden böse Intrigen geschmiedet, um dieses zarte Liebesglück zu unterbinden. Leider kommt grad die Figur der Annette aus literarischer Sicht zu kurz weg, was vielleicht daran liegen mag, dass sie ihre bekannten Werke, »Die Judenbuche« oder »Der Knabe im Moor« etwa, erst Anfang der 1840er Jahren veröffentlichen wird. Im Roman weiß Annette ansatzweise um ihr Talent, allerdings wird hier relativ knapp erzählt. Ein wenig Bedauern ist da schon, man hätte gern ein wenig mehr erfahren.
Mein Fazit: Wir lernen in diesem Roman viel über die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland und die Parallelen zur heutigen Zeit sind, wenn auch das ein oder andere Mal ein bisschen dick aufgetragen, frappierend. Die Spannung über die fast 600 Seiten aufrecht zu erhalten gelingt der Autorin grad so: Das Ausbreiten des Zeitpanoramas auf der einen, die Entwicklung hin zum Verrat auf der anderen Seite – kein leichtes Unterfangen, das alles unter einen Hut zu bringen. Erwähnt werden muss auch, dass Ironie und Humor im Roman nicht zu kurz kommen. Mein erstes Lob aber: Leser und Leserin erfahren viel über Literatur und Gesellschaft einer prägenden Zeitepoche und werden gleichzeitig gut unterhalten. »Fräulein Nettes kurzer Sommer« ist vielleicht kein Meisterwerk, aber eine unbedingte Leseempfehlung wert.
Der Knabe im Moor.
O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt –
O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.
Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor’,
Die den Haspel dreht im Geröhre!
Voran, voran, nur immer im Lauf,
Voran, als woll’ es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigenmann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!
Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
„Ho, ho, meine arme Seele!“
Der Knabe springt wie ein wundes Reh,
Wär’ nicht Schutzengel in seiner Näh’,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwehle.
Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimathlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief athmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O, schaurig war’s in der Haide!
Hm , klingt recht tendenziös: neue Frau, Verbeugung vor Heine, böse Burschenschaften… die waren vor 1871 doch noch recht progressiv: Die „bösen Demagogen“, die das wartburgfest umfunktionierten, die den Kotzebue murxsten und von der Einheit träumten.
Aber interessant scheint es auch wieder zu sein, quasi als Gegenentwurf zu Spielhagens Sicht auf die Zeit etwa in „Reih und Glied“ , „was will das werden“ oder „Sonntagskind“ – Romane des 19.Jahrhunderts damals auch sehr progressiv.
Mit der »neuen Frau« kann ich wenig anfangen. Sicher geht es hier auch um die Situation von schreibenden Frau im 19. Jahrhundert. Die Burschenschaften werden eher genieumwölkt und ein wenig deppert dargestellt. Ist das tendenziös? 😉
Ach ja, der Spielhagen, den müsste ich jetzt auch endlich mal zur Hand nehmen …
„genieumwölkt und deppert“ – nö – das passt gut. Es wird immer interessanter.
Vielen lieben Dank für einen weiteren Beitrag meiner Lieblingsrezensentin! Wieder ganz wunderbar geschrieben. — Ich erinnere mich dunkel an eine Platte die wir früher hörten, wo solche Gedichte vertont wurden, weisst Du was ich meine? War da der Knabe im Moor nicht auch dabei?
Da war der Knabe im Moor auch dabei, ja Sabine. Ich hätte so ein Silberling sogar noch für Dich, wenn Du magst?
Vielen Dank, dass Du Dir jetzt tatsächlich die Mühe gemacht hast. Und soviel Lob, werde ganz rot.
Der Knabe im Moor….
dieses Gedicht habe ich damals in der Schule auswendig gelernt ( ja, das musste man seinerzeit noch).
Ich mochte das auswendige Vortragen von Gedichten sehr.
An dieses erinnere ich mich gut, da es zu denen gehörte, die in jeder Zeile Bilder vor meinem geistigen Auge entstehen liessen, die einerseits gruselig, andererseits voller Geheimnis waren.
Wie schön, dass es aufgrund deines Artikels wieder aus den hinteren Schubladen meines Hirns hervorgeholt wurde!
🙂
Liebe Grüße für dich…
von Rosie
Danke für Deinen zeitreisenden Kommentar Rosie! Ja, dieses Gedicht hat es wirklich in sich: Wenn man nur ein wenig Phantasie sein eigen nennt, so zieht es einen direkt hinein in das gefährlich-unheimliche Moor.
Liebe Grüße!
(Wetterbericht darf nicht fehlen: Kalt und sonnig hier)