
Kennt man Angela Carter heute noch? Sie war keine Unbekannte als 1979 ihr wohl berühmtestes Buch ›The Bloody Chamber‹ veröffentlicht wurde. Als Godmother der feministischen (Horror-) Literatur bezeichnet sie heute Suhrkamp in seinem Klappentext. Ganz so einfach ist das mit solchen Zuschreibungen vielleicht nicht, wie wir noch sehen werden. Auf jeden Fall hat sich der Verlag 46 Jahren nach Erscheinen der Erstausgabe daran gemacht, dieses sehr besondere Buch in einer (sehr guten) Übersetzung von Maren Kames neu aufzulegen. Ich kannte Angela Carter, die in England zu den wichtigsten Autorinnen der Nachkriegsliteratur zählt, nicht, ich kannte auch dieses Buch nicht und ich staunte bei der Lektüre nicht schlecht.
Warum geht es bei diesen zehn Geschichten, deren längste knapp über 60, die kürzesten gerade 5 Seiten lang sind? Allen Geschichten ist gemein, dass sie Adaptionen von Märchen und Legenden sind: ›Die Schöne und das Biest‹, ›Rotkäppchen‹, ›Der gestiefelte Kater‹, Werwölfe und Vampire … alles hat hier seinen Platz und wird auf völlig neue Art erzählt. Und diese neue Art ist feministisch, erotisch, ist voller Abgründe, Metaphorik, Gestank und Schmutz, Pornographie und vielen überraschenden Wendungen. Und die Geschichten sind in keiner Weise »politisch korrekt«. Die Frauen, aus deren Perspektive meist erzählt wird, agieren innerhalb der patriarchalen Verhältnisse und befreien sich nicht daraus. Oder doch? Auf jeden Fall waren Feministinnen seinerzeit eher irritiert über dieses Buch, um es gelinde zu sagen. Heute stelle ich mir Angela Carter als eine freie Autorin vor.
Mein Vater hat mich beim Kartenspielen an Das Biest verloren.
(…)
Von den Kerzen tropfte heißes, beißendes Wachs auf meine nackten Schultern. Ich beobachtete das Geschehen mit dem grimmigen Zynismus von Frauen, die durch die Umstände gezwungen sind, still mit anzusehen, wie große Dummheiten begangen werden, während mein Vater, in seiner Verzweiflung durch das Höllenwasser befeuert, das sie hier »Grappa« nennen, sich Spielzug um Spielzug der letzten Reste meines Erbes entledigte.
Angela Carter, Die blutige Kammer, S. 91
Man ahnt in diesem Zitat die Anwesenheit von de Sade, mit dem sich Angela Carter intensiv auseinandergesetzt hat. Man sollte nicht den Fehler machen (ich tat ihn), die Geschichten hintereinander weg zu lesen. Jede einzelne Erzählung ist ein Fest der Vieldeutigkeit, der Groteske und allein wie frei die Autorin mit der Erzählerstimme umzugehen weiß: In den besten Geschichten ist das (meiner bescheidenen Meinung nach) große Literatur. Heißt aber auch, dass ich nicht zu allen Geschichten gleichermaßen Zugang gefunden habe. Vielleicht war ich doch irgendwann von diesem metaphorischen Überschwall überfordert?
Wie dem auch sei: Ich empfehle diesen Erzählband ausdrücklich und freue mich, dass nun endlich auch mir Angela Carter, die Anfang der 1990er Jahren früh verstarb, ein Begriff ist. ›Die blutige Kammer‹ ist ein sehr besonderes Buch.
Erschienen sind die Erzählungen bei Suhrkamp 2025. Das Buch hat 238 Seiten. ›The Bloody Chamber‹ erschien im Original 1979 und wurde neu aus dem Englischen von Maren Kames übersetzt. Buchcover und Illustrationen hat Julia Kissina gefertigt. Das 7-seitige Nachwort wurde von Mithu Sanyal verfasst.