Kurzer Bericht zur Lektüre von ›Zerrissene Erde‹ von N. K. Jemisin

Eines Tages überkam mich die Lust, eine Lovecraft-Geschichte in der edlen, aber sehr schweren und unbequemen Tor-Ausgabe zu lesen: Der Schatten über Innsmouth. Nach Beendigung dieser athletischen Lesung erinnerte ich mich an meine Sehnsucht nach zeitgenössischer Fantasy oder Science Fiction, die neben Einfällen und Ideen auch literarisch etwas zu bieten hat. Bei der anschließenden Suche auf der Webseite von Tor-Online stieß ich auf den Namen Nora Keita Jemisin: Von 2016 bis 2018 hatte die Autorin dreimal hintereinander den Hugo Award in der Kategorie Best Novel gewonnen. Wenn das keine Referenz ist. Ich besorgte mir also den ersten Teil ihrer Broken-Earth-Trilogy ›Zerrissene Erde‹. 2015 erschien die Originalausgabe unter dem Titel ›Fifth Season‹, 2018 die deutsche Übersetzung von Susanne Gerold im Knaur Verlag. Es war eine ziemlich aufregende Leseerfahrung.

Ich lese also erst einmal das Vorspiel (14 von nicht ganz 500 Seiten), das mich einigermaßen verwirrt zurücklässt. Dann das erste Kapitel: Es geht um Essun, eine Mutter, deren kleiner Sohn erschlagen und ältere Tochter entführt wurde. Und zwar vom Vater ihrer Kinder! Und dann eröffnet sich nach und nach eine sehr seltsame Welt. Es gibt eine Erde, Vater Erde, die im wahrsten Sinne bewegt ist: Gigantische vulkanische Aktivitäten und Verschiebungen der Erdplatten, die universelle Katastrophen und Massensterben hervorrufen, die sich allerdings nicht in Abständen von Jahrmillionen oder Jahrtausenden, sondern innerhalb weniger Jahrhunderten abspielen. Aufgezeichnet sind 12 solcher Fünftzeiten, wie Fifth Season ins Deutsche übersetzt wurde. Fünfte Jahreszeit würde in diesem Zusammenhang auch unangemessen klingen. Bewohnt wird diese unruhige Erde von Wesen in verschiedenen Gems (Gemeinschaften), die weitgehend abgeschlossen voneinander existieren. Es gibt verschiedene Rassen und Ordnungen, unter denen die Stillköpfe (Du und ich) die kleinste Rolle spielen.

Essun gehört zu den Orogenen, die abfällig Roggas genannt werden, und in der Lage sind, seismische Aktivitäten direkt zu beeinflussen und in Energie umzuleiten. Sie lesen sozusagen in die Erde hinein. Diese Menschen kommen, wenn ihre orogenischen Fähigkeiten erkannt werden, in Erziehungsanstalten und werden später von einem Wächter begleitet. Ihr Können ist in Notlagen sehr begehrt, gleichzeitig sind sie gefürchtet und verhasst ob genau dieser Fähigkeiten. Eine komplizierte, sklavische Existenz in einer sehr komplexen Welt, die sich von Katastrophe zu Katastrophe bewegt. Neben diesen Orogenen gibt es noch viele weitere bizarre Lebensformen, Steinmenschen, kristallene Obelixe und so fort, aber davon überzeuge man sich bitte selbst. Nebenbei: Wer kann, sollte den Roman im amerikanischen Original lesen, wie einige Kundige mir rieten. Die Übersetzung sei okay, aber es ginge bei der Übertragung ins Deutsche doch so manche Feinheit verloren.

Der Roman erzählt in drei Strängen: Die erwähnte Essun, die sich also auf die Suche nach ihrer entführten Tochter begibt. Auffallend, dass es hier einen Erzähler oder eine Erzählerin gibt, die die Heldin direkt in der zweiten Person anspricht. Das ist bei den beiden anderen Figuren nicht so: Damaya, eine auszubildende Orogene, und Syenit, die mit ihrem Anleiter Alabaster erste Aufgaben für erwachsene Orogene zu erfüllen hat. Allen Personen gemein ist, dass sie in ihren Rollen und Aufgaben Gefangene sind. Es werden fürchterliche Schicksale und Versuche des Ausbruchs geschildert und überhaupt spielt die Psychologie der handelnden Personen, die sich alle am Abgrund der bevorstehenden Katastrophe bewegen, eine große Rolle. Es ist der Kern dessen, was diesen Roman so lesenswert macht. Neben allen Zauberkunststücken und reichlich vorhanden Action-Elementen ist die Geschichte sehr komplex. Sie erinnert unaufdringlich an unsere heutigen Themen: Rassismus, Umweltzerstörung, Diversität, Endzeitstimmung – ich war mitten in der Lektüre geneigt, das Buch auf die Seite zu legen, weil es mir zu viel wurde. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Autorin Afroamerikanerin ist und Aspekte der afroamerikanischen Geschichte in den Roman eingewoben hat.

Ich kann an dieser Stelle ›Zerrissene Erde‹ lediglich auf recht naive Weise loben, denn ich bin überhaupt keine Expertin, was Science-Fiction oder Fantasy angeht. Ich bin sehr beeindruckt und werde nach einer Verschnaufpause auch die beiden folgenden Teile ganz gewiß lesen. Bis dahin empfehle ich ›Zerrissene Erde‹ von N. K. Jesimin ausdrücklich.

Ich habe die von Susanne Gerold aus dem Englischen übersetzte Ausgabe bei Knaur gelesen. Das Buch hat 496 Seiten. Als Extras bietet das Buch eine Karte der im Buch beschriebenen Welt, ein Glossar über verwendete Begriffe und Bezeichnungen und eine Auflistung der Fünftzeiten.

2 Kommentare on "Kurzer Bericht zur Lektüre von ›Zerrissene Erde‹ von N. K. Jemisin"


  1. Respekt! Das war sicher nicht einfach zusammenzufassen. Es ist dir aber super gelungen trotz aller Komplexität auf das Buch neugierig zu machen.

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    1. Vielen Dank liebe Sabine. Neugierig zu machen und ein wenig ins Thema einzuführen, Du weißt ja, dass das mein Vorhaben ist. Ich habe soviel weggelassen, z. B. allein was technische und medizinische Ressourcen angeht, die diesen Gems zur Verfügung stehen. Wäre ein seitenweises Kapitel für sich. Und so viele sehr spezielle Lebensformen. Aber da sind zahlreiche Aha-Erlebnisse während der Lektüre garantiert, es wäre ein Jammer, hier davon zu verraten.
      Liebe Grüsse!

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