Suhrkamp 1974, 96 Seiten, ISBN: 978-3-518-39787-9, auch als eBook. Erstausgabe 1972 bei Residenz.
An einem trostlosen Wintertag 1971, dem Tag der Beerdigung seiner Mutter Maria Handke, geborene Sivec, fasste Peter Handke den Entschluss, ein Buch über das Leben der Verstorbenen zu schreiben. 1972 wurde die knapp einhundertseitige Erzählung „Wunschloses Unglück” veröffentlicht. Es wurde zu eines seiner erfolgreichsten, schönsten und berührendsten Bücher. Ich habe die Erzählung nach vielen Jahren wiedergelesen und war so beeindruckt, dass ich an dieses frühe Meisterwerk erinnern möchte.
Maria, die Mutter des Autors, wächst in Kärnten auf. Sie gehört der Volksgruppe der Kärtner Slowenen an. Für das offensichtlich begabte Kind sind Bildung und Beruf nicht vorgesehen. Sie verlässt mit fünfzehn Jahren das Elternhaus. Die Deutschen halten inzwischen Österreich besetzt. In einem Hotel, in dem sie als Köchin arbeitet, verliebt sie sich in einen verheirateten Nazi-Offizier und wird schwanger. Um ihrem Kind ein Aufwachsen ohne Vater zu ersparen, wird sie noch vor dessen Geburt einen Unteroffizier der deutschen Wehrmacht heiraten. Eine reine Zweckehe. Mit ihrem Kind Peter, das der spätere Autor dieser Erzählung ist, zieht sie nach Berlin, um später während der Kriegshandlungen aufs Land zu ziehen. Die Wiedervereinigung der Familie ist gekennzeichnet durch Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit und dem Alkoholismus des Ehemannes. Die Familie, inzwischen sind es drei Kinder, kehrt in Marias Heimat zurück, der Mann wird bei ihrer Familie eingestellt. Sie leben in ärmlichen Verhältnissen, die Errungenschaften des Wirtschaftswunders gehen an ihnen vorbei.
Das Wort »Armut« war ein schönes, irgendwie edles Wort. Es gingen von ihm sofort Vorstellungen wie aus alten Schulbüchern aus: arm, aber sauber. Die Sauberkeit machte die Armen gesellschaftsfähig. Der soziale Fortschritt bestand in einer Reinlichkeitserziehung; waren die Elenden sauber geworden, so wurde »Armut« eine Ehrenbezeichnung. Das Elend war dann für die Betroffenen selber nur noch der Schmutz der Asozialen in einem anderen Land.
Gleichzeitig wird Maria immer selbstsicherer, die Schläge ihres Mannes quittiert sie mit schallenden Gelächter. Sie beginnt sich für Politik zu interessieren und liest mit ihrem ältesten Sohn Bücher. Nach und nach stellt sich bei Maria eine Depression ein. Weder diverse Arztbesuche, noch eine Jugoslawienreise können ihr helfen. Währenddessen hält sie zu ihrem Sohn Peter Kontakt. 1971 schreibt sie an alle Angehörigen Abschiedsbriefe und nimmt sich das Leben. Sie wird einundfünfzig Jahre alt. Wenige Wochen später beginnt ihr Sohn Peter mit dem Schreiben dieser Erzählung.
Soweit, gerafft und stark verkürzt, die Handlung der Erzählung. Was diese so besonders macht ist, dass nicht allein die biographischen Ereignisse der Mutter wiedergegeben werden, nicht allein versucht wird, eine absurde Emanzipationsgeschichte in der Mitte des letzten Jahrhunderts zu erzählen, sondern der Autor in der Erzählung über die eigenen Gefühle und die Notwendigkeit des Schreibvorgangs selbst Auskunft gibt. So wird immer wieder Fahrt aus dem Fortgang der Handlung genommen, ohne deren Tempo im mindesten aufzuhalten, im Gegenteil, diese „Einschübe” verdichten das Erinnerte. Für mich war die Lektüre eine stark emotionale Leseerfahrung: Nicht nur habe ich etwas über ein Frauenschicksal dieser Zeit erfahren, sondern sie hat mich auch einiges über Erinnern und Schreiben gelehrt. Und sie hat mich sehr berührt, denn da war so vieles, was mir bekannt vor kam. Wenn man noch nie etwas von Handke gelesen hat, beginne man mit diesem Buch.
Links:
- Wer gern ein paar Bilder zum Text hätte, wird hier bei Handke online fündig.
- Ein Interview mit Peter Handke über die Entstehung von „Wunschloses Unglück”.
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Ja, als ich das Buch das erste Mal gelesen habe, war es wie eine Offenbarung. Diese Lieblosigkeit ist sicher eine Erfahrung, die viele im und nach dem Krieg geborene Kinder in ihren Familien gemacht haben. Insofern ist dieses Buch ein großes Trostbuch und nach wie vor aktuell. Es gibt eine sehr schöne Hörfassung mit Bruno Ganz. Vielen Dank für den Tipp!
Kriegskinder, Kriegsenkel .. das ist sicher eine Erfahrung, die auch in diesem Buch eine sehr wichtige Rolle spielt. Das Thema selbst hat eine zeitlang eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben gespielt und tut das, wenn auch ein wenig mehr im Hintergrund, auch heute noch. Es schwingt sozusagen immer mit. Das erklärt, warum die wiederholte Leseerfahrung im naturgemäß fortgeschrittenen Alter eher noch intensiver wird. Dieser Zusammenhang ist mir beim Schreiben der Buchvorstellung gar nicht so klar gewesen. Auch deshalb Dank für den Kommentar. Und für den Tipp mit der Hörfassung natürlich auch.