Deutschland

Wallstein Verlag 2024, hg. und kommentiert von Rolf Parr, 236 S., ISBN 978-3-8353-5753-2

Der Wallstein Verlag hat den zweiten Band seiner Neuedition maßgeblicher Werke Wilhelm Raabes veröffentlicht. Es wurde nicht wie ursprünglich geplant ›Der Lar‹, sondern ›Unruhige Gäste – Ein Roman aus dem Säkulum‹. Der Roman gehört zu Raabes Spätwerk, welches für die heutige Leserschaft immer noch von Interesse ist. In dem Buch umfasst die Erzählung 179 Seiten. Es folgen editorische Notizen, 16 Seiten Anmerkungen, ein gut 20-seitiges Nachwort des Herausgebers Rolf Parr, Siglen, Literaturverzeichnis und Abbildungsnachweise der 6 Abbildungen im Anhang. Auf dem Schutzumschlag erkennt man zwei stattliche Gebäude vor einem Berghang, die ich anhand eines Bildes im Anhang als Kurhaus und Actienhôtel in Bad Harzburg auf einem Postkartenmotiv von 1908 identifizieren kann. Heimspiel.

Suhrkamp 2023, 829 S., aus dem Polnischen von Lisa Palmes, ISBN 978-3-518-43131-3, auch als E-Book erhältlich.

Es fing damit an, dass ich das Buch im Schaufenster der Buchhandlung meines Vertrauens entdeckte: Der Name der polnischen Autorin, Joanna Bator, kam mir gleich bekannt vor. Einige Jahre ist es her, dass ich ›Sandberg‹ las und geradezu verzückt war. Damit war genug Vertrauen in das jüngste Werk der Autorin hergestellt (zumal das Feuilleton begeistert auf die Veröffentlichung letztes Jahr reagierte, was allerdings nicht allzu viel heißen will) und ich kaufte den 800-Seiten-Wälzer. Es ist nicht eben leicht, über dieses Buch zu schreiben, ohne von vornherein zu viel zu verraten. Also beschränke ich mich auf Aufbau, Orte und Personal.

Wallstein Verlag 2023, hg. und kommentiert von Moritz Baßler. 288 S., ISBN 978-3-8353-5521-7

Das ist ja ein Ding! Es gibt eine neue kritische kommentierte Ausgabe der Werke von Wilhelm Raabe! Der erste Band erschien im Oktober 2023 im Wallstein Verlag: ›Fabian und Sebastian. Eine Erzählung‹. Der Erstdruck dieses Werkes erfolgte 1881 und 1882 in ›Westermann’s illustrierte Monats-Hefte‹. Herausgeber der Hefte war der zu dieser Zeit sehr bekannte Schriftsteller Friedrich Spielhagen. Die lange Erzählung Raabes gehört also zu dessen Spätwerk und wurde lange Zeit eher übersehen als besprochen, galt aber auch als eine Art Geheimtipp. Für mich Grund genug, mir diese Ausgabe zu besorgen und ›Fabian und Sebastian‹ zu lesen.

In ›Romane & Erzählungen 1916–1929‹ (S. 63 – 146), Kiepenheuer & Witsch 1989, ISBN: 3-462-01960-0, nicht mehr im Handel. Es gibt zahlreiche andere Ausgaben.

›Das Spinnennetz‹ erschien 1923 als Fortsetzung in der Wiener Arbeiter-Zeitung und war danach über Jahrzehnte vergessen. Erst 1967 erschien der Roman in Buchform. Dieses grad etwas über 80 Seiten starke Werk steht mit ›Hotel Savoy‹ (1924), ›Die Flucht ohne Ende‹ (1927) und ›Rechts und Links‹ (1929) für die erste Schaffenszeit der Rothschen Zeitromane. Dass Joseph Roth eher als Journalist denn als Romancier wahrgenommen wurde, bleibt bei der Lektüre von ›Das Spinnennetz‹ zu bedenken. Von der Meisterschaft eines ›Radetzkymarsch‹ ist der Autor hier zugegeben noch ein gutes Stück entfernt, aber dieser wilde Erstling hat durchaus seinen Reiz.

Jung und Jung 2021, 64 S., gebundene Ausgabe, ISBN: 978-3-99027-253-4

Ein kleines blaues Büchlein aus dem Hause eines renommierten Salzburger Verlags mit einer Erzählung von Wilhelm Raabe. Das hat man nun auch nicht alle Tage, und so soll kurz berichtet werden. Denn meine Freude war groß, dass endlich mal wieder ein Buch von Wilhelm Raabe neu aufgelegt wird, auch wenn es eine grad 44 Seiten kurze Erzählung ist. Veröffentlicht wurde sie 1873, geschrieben bereits im Frühjahr 1872. Der Erzähler dieser Geschichte, ein nicht genannter Jurist, der es versteht, seine fünf Sinne beisammen zu halten, trifft auf einen ehemaligen Kollegen, den Königlich Preußischen Kreisrichter zu Groß-Fauhlenberge Löhnefinke, der sich einigermaßen seltsam verhält. Also der Reihe nach:

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Mit Texten von Susanne Fischer. Suhrkamp 2020, 254 S., ISBN: 978-3-518-80450-6.
Arno Schmidt Zettel’s Traum. Ein Hör-Lesebuch. Gelesen von Ulrich Matthes. Laufzeit: 363 Minuten. Aufbau Audio 2021. ISBN: 978-3-96105-214-1

1334 großformatige Seiten in der Typoskriptausgabe, 1536 Seiten in der von Friedrich Forssmann und Günter Jürgensmeier gesetzten Edition. Ein Gigant von einem Buch, dreispaltig, parallel und dynamisch angeordnet: Handlung, Auseinandersetzung mit Poe, Assoziationen, Reflexionen und Gedachtes, Geräusche der Außenwelt. Es gibt eine Handlung mit vier Protagonisten, der man kaum zu folgen vermag vor lauter Poe, Etymtheorie, verkopfter Verschreibkunst und Instanzen, die sich nur für ältere, geniale Männer mit Impotenz erschließen. Da ist schon vieles, das nervt und mich eigentlich nichts anzugehen scheint. Aber was hilft’s, ich bin Arno Schmidt Leserin und da ist dieses schreckliche Buch aus dem Jahre 1970, was offensichtlich geschrieben werden musste (und vielleicht auch furchtbar misslang): »Zettels Traum«. Nun bin ich 60, berufstätig (ganz ohne Bücher) und Lesezeit steht für solch eine Zumutung eigentlich nicht zur Verfügung. Doch dann kam 2020 das Lesebuch zu »Zettel’s Traum« im Suhrkamp Verlag heraus und 2021 bei Aufbau die Lesung mit Ulrich Matthes auf einer MP3-CD . Wenn nicht jetzt, dann eben nie. Oder doch?

Die Andere Bibliothek 2021, Band 442, Die Nacht des Dr. Herzfeld (S. 7 – 230), Schnee (S. 233 – 503) und ein Nachwort von Lothar Müller (S. 507 – 522), ISBN: 978-3-8477-0442-3, gebundene Ausgabe.

Georg Hermann hieß eigentlich Georg Hermann Borchardt und wurde 1871 in Berlin geboren. Georg Hermann war auf vielfältige Art schriftstellerisch tätig, schrieb Essays, nahm zu Problemen der jüdischen Identität Stellung, schrieb Dramen. 1943 wurde der »jüdische Fontane«, wie er wegen seiner Vorliebe für diesen Autor genannt wurde, im KZ Auschwitz ermordet. Für lange Zeit schienen Georg Hermann und seine Romane vergessen. Mit den Romanen »Jettchen Gebert« (1906) und dessen Fortsetzung »Henriette Jacoby« (1908) avancierte er zum Erfolgsschriftsteller. Diese Romane spielten Mitte des 19. Jahrhundert in einer jüdischen großbürgerlichen Familie. Mit »Kubinke« (1910) und dem hier vorgestellten »Die Nacht des Dr. Herzfeld« (1912) wendete sich Herzfeld seiner Gegenwart zu. Hermann zeigt uns das zu seiner Zeit aktuelle Berlin und er zeigt es uns überaus detailreich.

Vandenhoeck & Ruprecht 1966, 2. durchges. Auflage 1981, Bd. 17. Das Odfeld. Der Lar. (S. 221-395), als PDF bei »digi20.digitale-sammlungen.de« zum Download. Preiswerte Buchausgaben sind antiquarisch gut zu erreichen.

Den Lar sollte man nicht auslassen. Zwischen Odfeld und Stopfkuchen, zwei Riesen also im Raabschen Erzählkosmos, tummelt sich »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte«. Eine Geschichte für jeden Festtag also. Raabe selbst hatte es mal nötig, sich so richtig gehen zu lassen, und so heißt das ironische Motto: »O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!« Raabe tut das: 1889 kommt die Erzählung erst als Dreiteiler in Westermann Monatsheften, dann als Buch heraus. Es wird ein Erfolg und dann wird die Erzählung irgendwie vergessen. Zu Unrecht, wie man sehen wird. Dass das keine gewöhnliche Schmonzette geworden ist, wird uns schon beim Lesen des Vorworts klar: Paul Warnefried Kohl mit seiner Frau Rosine, geborene Müller, am Taufbecken. Mit von der Partie Kohls Jugendfreund Bogislaus Blech und der Kreisdienstarzt a. D. Schnarrwergk. Das glückliche Ende ist doch jetzt eigentlich schon erzählt? Nicht doch, es geht erst los.

Empfohlene Ausgabe: Wilhelm Raabe, Das Odfeld, herausgegeben von Hans-Jürgen Schrader, Insel Taschenbuch, 227 S., ISBN: 3-458-32586-7, antiquarisch noch recht gut zu erreichen. Oder die Reclam-Ausgabe.

Anfang November 1761, mitten im Chaos des Siebenjährigen Krieges stehen der alte Magister Noah Buchius und der ruppige Klosteramtmann von Amelungsborn am Rande des Odfelds im Weserbergland und werden Zeugen eines unheimlichen Spektakulums. Zwei riesige Rabenschwärme fallen übereinander her und befehden sich ohne Gnade. Buchius sieht den Verlauf der tierischen Luftschlacht als ein Zeichen: Der geliebte Herzog Ferdinand von Braunschweig wird siegen und die Menschen vor den einfallenden Franzosen schützen. Wir sind im dritten von fünfundzwanzig Kapiteln und wissen bereits, dass das berühmte Gymnasium von Amelungsborn nach Holzminden verlegt wurde und man den schrulligen Schulmeister Buchius zurückgelassen hat. Er lebt in einer Klosterzelle, leidlich versorgt von dem Amtmann, der mit Familie und Gesinde ebenfalls vor Ort ist. Die Lage wird immer brenzliger, die Gegend und damit auch das Kloster stehen mitten in der Kampfzone. Wir Leser und Leserinnen von »Das Odfeld« bleiben für die nächsten Stunden im Geschehen.

Vandenhoeck & Ruprecht 1970, Braunschweiger Ausgabe, Band 16;
Antiquarisch gut erreichbar: Insel 1985, Werke in Einzelausgaben, Band 5, 195 S., ISBN: 3-458-32585-9;
Braunschweiger Ausgabe als PDFs: digi20.digitale-sammlungen.de

Wilhelm Raabes veröffentlichte seine Langerzählung »Im alten Eisen« 1887. Sie gehört zu seinem Spätwerk, also den guten, knappen 200er Seiter, die nie ein großer Erfolg beim breiten Publikum wurden, aber heute von großem Interesse sind oder sein könnten. Diese Romane oder langen Erzählungen, »Stopfkuchen«, »Das Odfeld«, »Die Akten des Vogelsangs« und andere sind literarisch viel zu interessant, um in Vergessenheit zu geraten. Resigniert ob des Desinteresses des deutschen Lesepublikums, dem ihr Humorist und Idylliker abhandenkam, schrieb Raabe in dieser Periode für sich und sein literarisches Konzept. Ein Glücksfall für uns heutigen Leserinnen und Leser.